Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
vereinigt sie das Schreckliche des Untiers mit der Schönheit des Lindwurms, was sich zunächst widersprochen hatte. Für die Menschen jener Gegenden, die von Drachen heimgesucht wurden, war deren Erscheinen zweifellos etwas Neues. Die Drachen lebten bei ihnen nicht seit jeher in den Höhlen, aber lange genug, um für die regionale Bevölkerung eine Belastung zu werden. Die Drachenfabeln gleichen den Märchen, wenn sie »vor langer Zeit …« beginnen. Einen Anfang gab es jedoch offenbar in jedem Fall. Darauf wird nicht näher eingegangen, wohl weil es die Erzähler für selbstverständlich hielten, dass der/die Drache/n irgendwann von irgendwoher gekommen war/en. Sie zogen sich ja auch wieder zurück, ursprünglich zumindest. Die Drachentötungen fallen in den historisch viel späteren Bereich, als sich im Mittelalter das Christentum der Drachen bereits bemächtigt hatte. Daraus lässt sich, zumindest in grobem Rahmen, die Zeit abschätzen, um die es ging. Die Anzeichen deuten darauf hin, dass die Drachen schon vor der Christianisierung aufgetreten waren und in eine Periode fallen, in der die Völker und Sippen in Bewegung waren. Das ist die Zeit der Völkerwanderung. Sie erstreckt sich über die »finsteren Jahrhunderte« der Geschichtsschreibung. Die Ordnung des Römischen Imperiums war zusammengebrochen. Es gab, abgesehen vom östlichen Mittelmeerraum, keine festen Reiche mehr. Selbst im Kernbereich des Imperiums der Römer kam es zu heftigsten Turbulenzen, vor allem im Westteil. Ostrom, Byzanz, blieb ein weiteres Jahrtausend lang deutlich stabiler, bis es schließlich 1453 auch fiel. Bei der Einnahme durch die Osmanen hatte es jedoch längst den größten Teil des früheren Einflussbereiches verloren. Im Westen bildeten sich indessen seit dem 8. Jahrhundert mit dem Frankenreich Karls des Großen neue raumgreifende Machtstrukturen aus, die zwar nicht annähernd die Beständigkeit des alten Römischen Reiches erlangten, aber dennoch die wirren Verhältnisse der vorausgegangenen Jahrhunderte wieder weitgehend stabilisierten. Ein Bollwerk gegen Eindringlinge aus dem Osten baute sich mit dem Frankenreich auf. Es hielt nicht allen Angriffen stand, wehrte aber im Großen und Ganzen den Zustrom aus Asien ab, die Hunnen und die Magyaren, die Mongolen und die Türken und mehrere andere, kleinere Invasionsversuche.
Das historisch größte Ereignis in diesem Zusammenhang war der »Mongolensturm« im 14. Jahrhundert unter Dschinghis Khan und seinen Nachfolgern, bei dem für kurze Zeit das größte zusammenhängende Reich überhaupt aufgebaut wurde. Es reichte von China im Fernen Osten über ganz Nord- und Zentralasien bis weit nach Europa hinein und übertraf damit die Sowjetunion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit etwa der doppelten Fläche. Beide Riesenreiche waren viel zu groß, um sich für eine historisch nennenswerte Zeit halten zu können. Weit wirkungsvoller und bis in die Neuzeit nachwirkender war der Vorstoß der Türken, die sich, geographisch gesehen, als großer Keil in die indoeuropäischen Völker zwischen Persien und den slawisch-griechischen Siedlungsbereich erfolgreich hineinschoben. Wie alle Verschiebungen größerer Völkerschaften lösten sie Kettenreaktionen unter den anderen aus, Völkerwanderungen genannt. Die rund fünf Jahrhunderte nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches werden in der europäischen Geschichte als Zeit der Völkerwanderung zusammengefasst.
Die Nibelungensage bezieht sich auf diese Zeit. Die Nibelungen zogen als »Burgunder« rheinaufwärts und wollten donauabwärts weiter. Ihre Sage beschreibt den Konflikt mit den Hunnen, deren bekanntester Anführer Attila (= Väterchen) als König Etzel darin auftritt. Der Weg war für die Burgunder nicht ganz so neu, wie es den Anschein erwecken mag, denn die Römer hatten Vorfahren von ihnen aus der Gegend am Niederrhein, von wo sie gekommen waren, ein gutes halbes Jahrtausend vorher bereits am Zusammenfluss von Donau und Inn im heutigen Passau angesiedelt. Der Name Passau bezieht sich auf die niederrheinisch-germanischen ›Bataver‹ in diesem strategisch so wichtigen römischen Lager Castra Batava. Es musste im Jahre 476 n.Chr. von den Römern vollends aufgegeben werden. 453 starb Attila, und das Hunnenreich zerfiel.
Dieser kurze historische Ausflug soll die Verhältnisse charakterisieren, die in der Zeit zwischen dem Zusammenbruch des Römerreiches und dem deutschen Hochmittelalter herrschten. Die
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