Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
Verwandlung zum Fabelwesen vertierlichten die Drachen. Im christlichen Mittelalter bot sich der Drache geradezu ideal dafür an, mit dem Satan gleichgesetzt zu werden, verbrauchte er doch in seinem unterirdischen Leben auch junge Frauen. Die Menschen von der Plage des Drachen befreien konnten besonders edle (= reine) Ritter. Die Schwachstelle der Drachen, ihre Verwundbarkeit von unten her, blieb zwar dem gewöhnlichen Volk verborgen, nicht aber den mit mehr oder weniger ernsthaften, stark formalisierten Kämpfen vertrauten Rittern. Und wiederum nach dem Grundmuster, wie sich alte Sagen fortpflanzen, den Kern dabei dennoch bewahren, wenngleich sie mannigfache Abwandlungen durchmachen, blieb die vage Kunde von der Verletzlichkeit der Drachen erhalten. Sie verdichtete sich in der Figur des Drachentöters. Ritter Georg, der Drachentöter, wurde zum Heiligen erhoben. Denn für das Mittelalter, insbesondere in seiner von gesellschaftlichen und kulturellen Turbulenzen so heimgesuchten Spätzeit, bot sich die Umdeutung der Drachen als Verkörperung des Satans geradezu an. Diese vereinten mit ihrer unterirdischen, den gewöhnlichen Menschen verborgenen Lebensweise, mit dem Anhäufen von Schätzen und der Gier nach jungen Frauen so perfekt die wesentlichsten Eigenschaften des Bösen, dass Satan mit der Figur des Drachen personifiziert und vielfach als solcher dargestellt wurde. Nicht nur der heilige Georg, auch Christus selbst wurde zum Drachentöter stilisiert. Im Drachen hatte das Böse noch überzeugender Gestalt angenommen als in Form der Schlange im biblischen Sündenfall. Doch wie der Teufel durchaus männliche Gestalt nötig hatte, die zu den Menschen passte, weil er sich sonst nicht so leicht in deren Welt hätte einschleichen können, bekam auch der Drache im Lauf der Zeit menschliche Züge. Seine Gestalt ließ sich fast nach Bedarf abwandeln. So beispielsweise auch zum (weiblichen) Hausdrachen. Von seinen ursprünglichen Eigenschaften blieb darin nicht mehr viel übrig. Der Prozess der Mythologisierung führte in die Transformierung. Aus den Bergmännern, die, um ihre Tätigkeit zu verbergen, einst die Drachen ganz real dargestellt hatten, war zunächst ein Tier geworden, das als Vorbild für die volksnahe Darstellung des Bösen diente, sich sodann in den Teufel und seine »Großmutter« aufspaltete und in einer weiteren Ausprägung als nunmehr ganz wirklicher, weil lebendiger Hausdrache Einzug hielt in die schon deutlich aufgeklärtere abendländische Gesellschaft. Unsere Kinder erleben die Drachen nun als mehr oder weniger gelungene Rekonstruktionen der vor Urzeiten ausgestorbenen Dinosaurier.
Was spricht gegen diese Deutung der Drachen? Sicherlich lassen sich psychologische Einwände erheben, die von Archetypen in den Empfindungen der Menschen ausgehen. Ich habe bereits betont, dass wir als Menschen generell extrem anfällig für Übertreibungen sind. Aber dennoch meine ich, dass auch das Übertriebene eine reale Grundlage gehabt haben musste. Nichts wird völlig frei aus dem Nichts erfunden. Nach den beiden Grundprinzipien der evolutionsbiologischen Argumentationsweise gehe ich erstens davon aus, dass die Drachen anfangs »wichtig« gewesen sein müssen; bedeutender als Schlangen oder die praktisch durchwegs harmlosen Echsen. Alle realistischen tierischen Vorbilder geben diese Wichtigkeit nicht her. Sie lassen sich allenfalls nachträglich anhängen, wie etwa der nette kleine Flugdrache ( Draco volans ) der südostasiatischen Regenwälder, der mit einer von abgespreizten Rippen gebildeten Flughaut von Baum zu Baum gleitet. Und zweitens musste ihre Bedeutung lange genug andauern, dass eine Mythologisierung zustande kommen konnte. Denn erst über die Nachwirkung wird verständlich, warum es zur Mutation zum Fabelwesen kam. Der ursprüngliche Zusammenhang durfte dabei nicht schon mit etwas kritischem Nachdenken offenkundig werden, sonst hätte sich eine natürliche Erklärung zu schnell durchgesetzt. Die Umformung zum geheimnisvollen Fabelwesen, die Mythologisierung, musste den Menschen mehr bieten als die Aufklärung darüber, worum es sich eigentlich gehandelt hatte. Das ist beim Drachen mit der Übertragung auf den Teufel und die volkstümliche Sichtbarmachung des Bösen in Form von Drachenbildern und Gleichnissen zweifellos gelungen. Aber müssen es wirklich Bergleute, die nach Gold und Edelsteinen schürften, gewesen sein, die hinter den Drachen steckten? Diesem Einwand ist zu entgegnen, dass jede Deutung
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