Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)
wirkungsvoll, dass sie sogar gewöhnliches Zeitungspapier verzehren können. Wie viele Ziegen und Schafe es in der griechischen Antike gegeben hat, lässt sich nicht einmal grob abschätzen. Wir gehen aber davon aus, dass sie und nicht die Rinder maßgeblich am Verbiss der Vegetation beteiligt waren. Sie schmälerten über die Jahrhunderte hinweg die Fruchtbarkeit Griechenlands, insbesondere auf den niederschlagsarmen Inseln und auf dem Peloponnes. Aus ehedem lichten Wäldern wurde Dornbuschland wie nahezu überall rund ums Mittelmeer. Denn es überlebten vornehmlich solche Pflanzen, die den Verbiss ertrugen, weil sie sich mit fast metallartig harten und spitzen Dornen für die Mäuler der Ziegen schwer angreifbar machen. Die Inselwelt der Ägäis trägt ihren Namen nach den Ziegen, griechisch aigos . Von steinbockartigen Wildziegen des östlichen Mittelmeerraumes, von Capra aegagrus , stammen die domestizierten Ziegen ab. Die Schafe kommen aus derselben Region, den etwas weiter östlich liegenden südwestasiatischen Bergländern, wo ihre Wildform Ovis ammon lebte. Wie die Ziege gehören die Schafe zu den ersten domestizierten Tierarten. Lediglich der Hund ist als Haustier viel älter.
Als Herdentiere, die sie ihrer Natur nach sind, halten Schafe und Ziegen auch beim Weiden eng zusammen. Sie können mit geringem Aufwand gehütet werden, brauchen aber überall dort Schutz, wo Wölfe ( Canis lupus ) und andere Raubtiere vorkommen, für die schon halbdomestizierte Formen eine leichtere Beute als ihre wachsameren wilden Verwandten sind. Auch Bären ( Ursus arctos ) bedrohten die Schafe, wenn diese gerade gelämmert hatten oder hoch trächtig waren. In den nördlicheren, stärker bewaldeten Regionen des antiken Griechenland lauerte der Luchs ( Lynx lynx ) den Schafen und Ziegen auf. Rehe ( Capreolus capreolus ), gegenwärtig die Hauptbeute der Luchse in Europa, gab es im Altertum in Griechenland nur sehr wenige oder gar keine. Damhirsche sind groß und schnell; sie waren wohl auch schon in der vorklassischen Zeit selten und der ›Hohen Jagd‹ der Artemis vorbehalten. Wildschweine dürften gleichfalls nicht häufig gewesen sein, wenngleich verbreitet genug, dass Wildeber eine Gefahr für die Hausschweine darstellten, weil sie »wildes Blut« in die Schweinezucht hineinbringen konnten.
Aus der Sicht der vorhandenen Raubtiere, denen mit Pfeil und Bogen oder mit Lanzen kaum beizukommen war, bildeten die Haustiere somit die für sie bei weitem attraktivste Nahrung. Niemals in den Zeiten vorher gab es so viele Ziegen und Schafe in den Wäldern, Schweine in den Hainen und Rinder auf den Weiden wie in der klassischen Zeit Griechenlands. Ganz entsprechend verhielt es sich auf dem Balkan, im Gebiet der Thraker, und in Kleinasien. In diesem Raum herrschten sicherlich eklatant andere Verhältnisse als im Alten Ägypten. Darauf komme ich bei der Behandlung des Einhorns zurück. Kleinasien war, wie auch weiter ostwärts das Zweistromland und Persien, vergleichsweise dicht besiedelt und weithin kultiviert. Die Landschaften waren weit weniger wüstenhaft als in unserer Zeit. Klimatische Veränderungen bahnten sich allerdings an. Vor zwei bis drei Jahrtausenden regnete es insgesamt noch reichlich, aber wohl nicht mehr gleichmäßig genug, um der menschlichen wie auch der tierischen Bevölkerung des Nahen Ostens stabile Verhältnisse zu gewährleisten.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Griechenland und Kleinasien liegt in der Landesnatur. Griechenland ist eine zerklüftete, durch tief ins Land reichende Buchten gegliederte Halbinsel mit vielen vorgelagerten Inseln unterschiedlichster Größen, die nach Norden hin von schwer zugänglichen Gebirgen abgegrenzt wird. Kleinasien hingegen öffnet sich nach Osten und Südosten weitflächig, auch wenn es im Norden vom Schwarzen Meer und im Westen und Süden vom Mittelmeer umgeben ist. Diese unterschiedlichen Lageverhältnisse hatten zur Folge, dass die Vorkommen größerer Tiere in Griechenland vom freien Austausch mit anderen Beständen ihrer Art in entfernteren Gebieten weitgehend abgeschnitten waren. Daher wurde der Löwe dort viel früher ausgerottet als in Kleinasien. Wie schon ausgeführt, hatten sich Löwen in Persien fast bis in die Gegenwart gehalten. In Südwestindien kommen sie immer noch vor. Auch auf der Arabischen Halbinsel wurde der Löwe erst nach dem Altertum ausgerottet. In Nordafrika kam er zur Zeit der Römer recht häufig vor. Diese hatten offenbar keine
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