Einkehr zum toedlichen Frieden
Ich öffne die Tür und lasse das bellende
Ungeheuer raus. Es hechtet sofort auf die Straße zu.
Am Rande meines Blickfeldes taucht ein rotes Cabrio auf. Ich
schließe die Augen. Ohrenbetäubendes, entsetzlich langes Quietschen, Hupen,
Brüllen, Motoraufheulen, dann Stille.
Langsam hebe ich die Lider.
Die mit frischer Bremsspur gezeichnete Straße ist leer. Vor dem Haus
auf deutscher Seite steht Linus. Am Halsband hält ihn ein Persönchen, das kaum
schwerer als der Hund sein kann. Frau Mertes, die Putzfrau. Die mich belastet
hat. Sie blickt dem Auto nach, schüttelt den Kopf und winkt mich zu sich
hinüber.
Ich sehe nach rechts und links, ehe ich die belgische Staatsgrenze
in Form der Bundesstraße überschreite.
»Danke«, sage ich. »Das hätte schiefgehen können.«
»Is ja noch mal jut jejaan«, entgegnet sie vorwurfsvoll, mustert
mich aus leicht verquollenen Augen mit unverhohlener Neugier und platzt heraus:
»Du bist also dat Uneheliche vom Christensen Karl?«
»Scheint so. Ich heiße Katja Klein.«
Mit der Hand, die den Hund nicht festhält, fasst sie sich ans Herz.
»Was? Dat Anna sein Mädchen?!«
»Sie kannten meine Mutter?«
»Kannten?! Dat war meine beste Freundin. Na so was! Und du … du bist
also ihr Kind, aha, wohl der Grund, dat se von hier wech is! Aber wieso der
Christensen Karl? Als ich von dir hörte, dachte ich, dat war janz sicher der
Werner, der alte Hu…«
Sie bricht ab, nimmt das Hundehalsband in die linke Hand und reicht
mir die rechte.
»Ich bin die Fine Mertes. Josefine, aber alle sagen Fine. Die deine
Großmutter selig bis zu ihrem Tod jepflecht hat. Die beste Freundin deiner
Mutter. Na so was, komm rein, Kind, da jibt es viel zu reden.«
Das tut sie dann auch ausgiebig. Was ich in jener Stunde, in der ich
mit Fine Mertes in der aufgeräumten Küche Kaffee trinke und Donauwelle esse,
während sich Linus mit einem Spitz balgt – »die verstehen sich, keine Angst,
der Rocky tut ihm nichts« –, was ich also da über meine Mutter und ihre
Vergangenheit erfahre, beunruhigt mich weit mehr als Langers Mordvorwurf. Fines
eigene Empörung manifestiert sich in ihrer Sprache: Immer wieder rutscht sie
aus dem bemühten Hochdeutsch in ein mir schwer verständliches Idiom ab – wobei
ich als Berlinerin mit dem als J gesprochenen G noch die geringsten
Schwierigkeiten habe.
»Aus dem Staub jemacht hat sie sich«, schimpft Fine Mertes, »ohne
mir ein Wort zu sagen!«
Diese Tatsache entrüstet sie offensichtlich noch mehr als jene, dass
Anna nach dem Tod ihres Vaters die arme Mutter, also meine Großmutter, mit der
Beerdigung und dem bis über den Dachfirst verschuldeten Haus und
Lebensmittelladen allein zurückgelassen hatte.
»Deine Großmutter hätte ins Armenhaus jemusst, wenn ich sie nicht
aufjenommen hätte«, fährt Fine Mertes aufgebracht fort.
»Gab es denn sonst keine Verwandten, keine Geschwister?«, frage ich
entsetzt, nicht ahnend, wie viel dicker es noch kommen würde.
»Deine Mutter war Einzelkind, und die anderen Kleins hier in der
Gegend sind nicht mit euch verwandt. Ihr kommt ja nicht von hier.«
Ich erfahre, dass mein Urgroßvater aus Hamburg zugezogen war, um in
einer riesigen Munitionsfabrik zu arbeiten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts
auf der Kehr stand, mehr als zweitausend Leuten Arbeit geboten hatte und
irgendwann explodiert war. Nach wie vielen Generationen gilt man in der Eifel
eigentlich als einheimisch?
»Wie der Vater von dem Christensen Karl. Der kam auch aus Hamburg,
ist seiner Freundin gefolgt, die war …« Fine Mertes verfällt ins Flüstern: »…
ein leichtes Mädchen, du verstehst schon. Er hat sie dann ehrlich gemacht, aber
sie wurde hier trotzdem zur Arbeit zwangsverpflichtet. Janz jelb war sie, als
sie starb. Eine Fabrikindianerin, ein Kanarienvogel, weil dat mit Pikrin vermischte
TNT, mit dem die
Sprengstoffgranaten gefüllt wurden, die Haut jelbrot verfärbte. Und dann muss
ich jetzt erst erfahren, dat der Karl der Vater von dat Anna sein Mädchen ist!
Na so was! Meine beste Freundin, deren Mutter ich bis zum Tod gepflegt habe!
Warum hat sie mir dat nich jesagt?«
»Vielleicht, weil er verheiratet war?«, biete ich an, ziemlich
verwirrt von der Vielzahl der Informationen, die aus Fine hervorsprudeln.
Fabrikindianerin, Kanarienvogel, TNT,
Pikrin, was zum Teufel hat sich hier früher auf der scheinbar so friedlichen
Kehr abgespielt?
Fine schüttelt den Kopf. »Er war doch Witwer …«
Ihre Stimme verliert sich. Sie schaut mich
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