Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
vorm Gesicht – aber schoben dennoch
problemlos einen Kinderwagen, gaben einfach so zu erkennen, daß ihnen vor nicht
allzulanger Zeit ein Mann beigewohnt hatte. Beigewohnt. Dafür gab es
ja ganz schlimme Umschreibungen. Jemandem beiwohnen klingt schon
schlimm genug. Geschlechtsverkehr war weniger schlimm, das war der Verkehr
zwischen den Geschlechtern, das konnte auch harmlos sein, gemeinsames
Teetrinken zum Beispiel, oder Karten spielen.
Manchmal sah er Frauen, die waren so schön, daß er daran dachte, sie
auf den Mund zu küssen. Sofern niemand zusehen würde. Das war ziemlich
utopisch, aber seit einiger Zeit putzte sich Johnny zweimal täglich die Zähne.
Wenn er sich die Zähne putzte, kam es, weil er es mit nicht zu unterdrückenden
Hintergedanken tat, regelmäßig zu Erektionen, manchmal zu Ejakulationen, beide
Begriffe kannte er zwar, doch gebrauchte er sie nicht, sie schienen ihm
zutiefst suspekt. Erektionen nannte er Verhärtungen, Ejakulationen umschrieb er im geheimen Tagebuch mit: Hab mich wieder unten übergeben müssen .
Eigentlich hatte er sein Tagebuch so führen wollen, daß man es jederzeit
öffentlich vorlesen konnte, ohne irgendwem die Schamröte ins Gesicht zu
treiben. Ein sehr guter Ratschlag seiner Mutter war das gewesen, denn man muß
ja immer damit rechnen, daß Geschriebenes in fremde Hände fällt. Geschriebenes
ist eine intime Sache, wie Unterwäsche. Seit seine Familie von dem Dorf
Flachslanden nahe Ansbach nach Berlin gezogen war, stellte Johnny Veränderungen
an sich fest. Manchmal gab es Werbungsplakate für Hautlotionen, wie das im
Kaufland, wo man die unverhüllte Brust einer schönen Frau betrachten konnte.
Inzwischen schaffte er es, hinzusehen, ohne sich gleich übergeben zu müssen,
unten. Aber die Großstadt führte zu vielen Verhärtungen. Seine Mutter war gegen
den Umzug gewesen, sein Vater jedoch, der von seiner Religionsgemeinschaft in
ein hohes Amt gewählt worden war, meinte, man könne sich gegen diese Art
Berufung schlecht wehren, sie komme letztendlich von Gott, der einen an diesen
Ort bestellt habe. Damit müsse man nun fertig werden. Die Menschen in Berlin
hätten das Wort Gottes auch sicher um einiges nötiger als die Menschen rund um
Ansbach.
Johnny hieß in Wahrheit Johannes. Es war Swentja gewesen, die ihn
Johnny genannt hatte, beharrlich, weil sie den Namen Johannes nicht so richtig
toll fand. Er hatte sich das von ihr gefallen lassen, und neulich, beim
Abendbrot, hatte er sogar seinen Eltern gegenüber erwähnt, daß man ihn hier ab
und zu Johnny rufen würde. Sie reagierten gelassener als befürchtet. Manchmal aber sahen sie
ihn in den letzten Wochen streng und verbittert an, als sei ihnen bereits,
durch Denunziantenengel, offenbart worden, daß er beim Kreuzbergfest, auf
Swentjas Vorschlag hin, ein verwerfliches, verwirrendes Getränk getrunken und,
später am Abend, die Scham jenes ungläubigen Mädchens mit der Fingerspitze
berührt hatte. Es sei ein Versehen gewesen, würde er sich rechtfertigen. Ein
Fingerfehler. Ja, aber eine anständige junge Dame hätte sich, würde seine
Mutter einwenden, dagegen zur Wehr setzen müssen.
Sicher, Swentja war unwissend, hatte Gott noch nicht in ihr Herz
gelassen, sie war verantwortungslos erzogen worden, war schwer gefährdet, ein
Mädchen unter dem Joch der Versuchung. Aber durfte man es deswegen gewissenlos
sich selbst überlassen? Nein, gerade eben nicht. Das würde er seinen Eltern
erklären. Sie würden es verstehen. Sie verstanden fast alles und erklärten es
dann. Und gern. Und ausführlich.
9
Ekkehard Nölten war regelmäßig Kunde in der
Lebensmittelabteilung des Karstadt am Hermannplatz gewesen, obwohl er sich das
in Anbetracht seines Frührentnereinkommens rein rechnerisch nicht leisten
konnte. Jedoch, die Lebensmittelabteilung des Karstadt am Hermannplatz,
Neukölln, war hier und da wohltuend anders gewesen als andere, im Preisniveau
ähnlich gelagerte Lebensmittelabteilungen. An der Wursttheke gab es abgepackte
Wurstabschnitte, die gerade mal ein Fünftel dessen kosteten, was dieselbe Menge
an regulär aufgeschnittener Wurst gekostet hätte. An der Fischtheke war es
genauso, fast noch besser: Für einen mehr als fairen Preis konnte man hier
Lachs, Zander, Steinbutt und andere Fischdelikatessen mitnehmen und sich zu
Hause davon eine leckere Fischsuppe kochen. Das Allerschönste aber war die
Kalbsleber. Ekki liebte Kalbsleber. Die hier unverschämt teuer war. Nahm man
sich hingegen drei Portionen von
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