Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
Schwester.
»Kann nich! Wer isn das?«
»Geht dich nix an. Geh pennen!«
»Das sag ich Mama!«
»Gar nix sagste Mama!«
»Doch!«
»Was isn jetzt?« wollte Mahmud wissen.
Swentja überlegte hin und her. Sie mußte schnell eine Entscheidung
treffen. Wenn Sonja ausplaudern würde, daß ein junger Mann, zumal mit etwas
dunklerer Hautfarbe, die Wohnung betreten hatte, würde es Ärger geben. Und
Sonja würde plaudern, definitiv.
»Tja, wir sind leider nicht interessiert.«
»Hä?«
»Wir abonnieren keine Zeitungen, schon gar nicht an der Haustür. Tut
mir leid!«
Mit diesen Worten schob sie Mahmud über die Türschwelle zurück,
blinzelte ihm zu und flüsterte noch mal, aber in völlig anderem, viel
glaubhafterem Ton, daß es ihr leid tue. Mahmud rollte entnervt mit den Augen
und fragte, ob er vielleicht später noch mal wiederkommen solle.
»Heute jedenfalls nicht!« Swentja schloß die Tür mit einem festen Ruck.
»War nurn Vertreter. Der neue Zeitungsjunge. Wollte wissen, ob wir
was abonnieren.«
»Warum hatte der Geld an der Stirn pappen?«
»Ist son Lockangebot. Wenn man drei Zeitungen abonniert, gibts 100
Euro Prämie.«
»Bringst du mich ins Bett?«
»Du kannst einem echt auf die Nerven gehn.«
»Und du mußt mir noch eine Geschichte vorlesen!«
»Nee.«
»Doch. Doch!«
Swentja sah ihrer Schwester in die Augen. Konnte man ernsthaft eine
Fünfjährige als verschlagen bezeichnen? Besser wars in jedem Fall, auf Nummer Sicher zu gehen und ihr noch
eine Geschichte vorzulesen. Definitiv.
Eine halbe Stunde später, in ihrem Zimmer, rief sie Mahmud an.
»Ich kann nix dafür. Wir holen das nach.«
»Okay, aber ich zahl dir jetzt nur noch achtzig Euro. Damit das klar
ist! Zeit ist Geld.«
Swentja rang um eine passende Antwort, ihr fiel keine ein, sie
drückte erst mal die rote Taste.
Johnny hatte eine SMS geschickt. MELD DICH DOCH MAL! ICH VERMISSE DICH!
Swentja setzte ihre Kopfhörer auf, flüchtete unter ein Zelt aus
Musik, hörte ein paar Songs der Babyshambles, schlief dann ein, ohne auf die SMS reagiert zu haben, kurz bevor ihre Eltern vom
Tanzclub zurückkehrten. Sie hatten einen guten zweiten Platz errungen, waren
somit für die Stadtmeisterschaft qualifiziert.
Johnny lag in seinem Bett, Tränen liefen ihm die Wangen
herab, und er malte sich aus, wie es wäre, wenn Gott beschlossen hätte, seine
Geliebte in einem Autounfall oder sonst auf irgendeine Weise sterben zu lassen.
Anders konnte er sich ihr Schweigen plausibel nicht erklären. Um Mitternacht
rief er sie noch einmal an, verzweifelt und von Sorge zerfressen. Die Mailbox
ging ran, aber er hatte nicht die Kraft, einer vielleicht bereits Toten seinen
Liebesschwur auf Band zu sprechen. In dieser Nacht haderte er, zum ersten Mal
in seinem Leben, mit Gott. Unendlich viel ging in ihm vor. Erst gegen vier Uhr
morgens überwältigte ihn der Schlaf, wie man einer Geisel gewaltsam einen Sack
über den Kopf zieht.
13
FREITAG
Dr. Thomas Stern war es gewohnt, auch kürzere Strecken mit
dem Taxi zurückzulegen. Aber die zwei Stationen von seinem Zweitbüro am Rathaus
zum Bielefelder Hauptbahnhof waren mit der Trambahn ein zu einleuchtendes
Angebot, das Geld wie Zeit sparte. Er fühlte sich blendend. Carla war
außerordentlich lieb zu ihm gewesen, am Morgen hatten sie gemeinsam neue
Sneakers für ihn ausgesucht, und wieder war er sich bewußt geworden, daß er es
sich aufgrund seiner neuen Position leisten konnte, gegen die
Kleidungsvorschriften der Firma zu verstoßen, wenigstens bis hinauf zu den
Knöcheln. Das war doch was. Obwohl er jetzt darüber nachdachte, ob Turnschuhe
an ihm nicht bald – oder war es gar schon soweit? – zu gewollt juvenil
aussahen. Am Hauptbahnhof stieg er aus und beschloß, darüber nicht allzu heftig
nachzudenken. Der örtliche Punk- und Junkietreff, am Ende der langen
Rolltreppe, die in den Bahnhofsvorplatz mündete, wurde per Lautsprecher mit
Beethovens Klavierstück »Für Elise« dauerberieselt, was die Junkies anfangs
verscheucht hatte, bis sie nach und nach dagegen resistent geworden waren. Dr. Stern
ärgerte sich stets erneut, sobald er diese Örtlichkeit passierte, über den
Mißbrauch Beethovens. Man müßte, dachte er, dieses sich als zwecklos erwiesen
habende Projekt endlich stoppen. Zudem mochte er das sentimentale Klavierstück
und blieb regelmäßig ein paar Sekunden lang stehen, um ihm zu lauschen. Wie
konnte irgend jemand je auf den perversen Gedanken verfallen sein, menschlicher
Abschaum könne
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