Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
aussortierten Leberabschnitten, schmiß die
flachsendurchwachsene Rinds- und Schweineleber weg und behielt allein die
zarten Kalbsleberstücke, so konnte man schnell mal dreihundert Gramm für einen
Bruchteil des regulären Preises mit nach Hause nehmen. Ein sehr menschlicher
Zug am Karstadt Neukölln. War das gewesen. Jetzt sah die Sache anders aus. Man
hatte im Winter die Lebensmittelabteilung binnen zweier Monate komplett
umstrukturiert, ohne Not, Sinn und Zweck. Die Umbauarbeiten mußten viel
gekostet haben. Aber wozu? Es sah vielleicht ein klein wenig schnieker und
transparenter aus als vorher, die Wurst-Käse-Abteilung war vom Rand in die
Mitte gerückt, war nun komplett zu umwandern – wem bitte sollte damit gedient
sein? Und es gab keine Abschnitte mehr. Weder Wurst- noch Fisch- noch Leber.
Will Karstadt, fragte sich Ekkehard Nölten, damit ein Zeichen
setzen? Und welches? Schmiß man die Abschnitte nun etwa weg, einfach weg ?
Wollte man die Geringverdiener nicht mehr billig davonkommen lassen?
Es war seit jeher ein Signum Neuköllns gewesen, daß man sich hier
auch mit kleinem Geldbeutel gut ernähren konnte, zum Beispiel, wenn man auf dem
Türkenmarkt am Maybachufer kurz vor sechs Uhr abends Obst kaufte. Da bekam man
schon mal drei Kilo Erdbeeren für zwei Euro nachgeschmissen, oder fünf Mangos
für einen. Undsoweiter. Ekki aber stand nicht so auf Obst. Er wollte weiterhin
Kalbsleberspaghetti essen, mit Schinkenwürfeln, Sahne, Zwiebeln, Majoran und
einem Schuß Sherry. Sein Leibgericht. Kalbsleber für 25 Euro das Kilo hingegen
degradierte ihn zu einem Menschen dritter Klasse. Der er im öffentlichen
Ansehen vielleicht war. Nein, sogar ganz sicher war. Dahingehend pflegte er
keine Illusionen. Ob es je wieder Wurstabschnitte geben würde, wagte er an der
Wursttheke nicht zu fragen, um sich nicht freiwillig als drittklassig zu
brandmarken. Er stand da und trauerte still. Nicht in erster Linie, weil wieder
eine geliebte Nische der Konsumlandschaft verschwunden war. Seine Trauer (seine
Scham) galt auch der Einsicht, welch überproportional große Rolle das Essen in
seinem leergelaufenen Exlateinlehrerleben inzwischen spielte. Auch wenn er
immer wieder daran dachte, daß Seneca, jener stets Verzicht und Gelassenheit
predigende Stoiker, einst der reichste Mann Roms gewesen war, mit einem auf
heutige Verhältnisse umgerechneten Vermögen von gut zwei Milliarden Euro. An
Ekkis Situation änderte das nichts. Nein, nichts.
10
»Hi, hier ist Swentja.«
»Swentja?«
»Wie stellste dir dasn vor?«
»Wie stell ich mir was vor?«
»Na, wenn ich auf dein Angebot eingeh. Haste überhaupt hundert
Euro?«
»Ach, du bist das? Ich soll dich lecken, ja?«
»Nö. Du darfst mich lecken. Vielleicht. Wennde vorher mit dem
Geld rüberkommst.«
»Geld hab ich. Treffen wir uns Mitternacht aufm Südstern?«
»Wieso aufm Südstern?«
»Da gehn wir in den Park. Hasenheide. Da hockste dich auf ne
Parkbank, und ich leck dich. Hinterher gibts Kohle.«
»Nein, vorher.«
»Du krichst die Hälfte vorher.«
»Warum Hasenheide? Haste kein Zuhause?«
»Ey, ich kann nach Heim keine Deutsche vorbeibringen. Mußte
Verständnis für zeigen.«
»Hasenheide ist doch total dunkel um Mitternacht.«
»Ja und? Grad deswegen. Ich beschütz dich schon. Taschenlampe hab
ich auch.«
»Nee. Am Ende warten da deine Kumpels, und dann vergewaltigt ihr
mich. Bin doch nicht blöd!«
»Na, dann flachfall! Soll ich mir wegen dirn Hotelzimmer nehmen oder
was?«
»Das wär stilvoll.«
»So dringend isses dann auch nich.«
Swentja hörte ein Klicken in der Leitung. Sie wollte es nicht
wahrhaben.
»Hallo? Mahmud? Arschloch?«
Sie wiederholte noch einmal ihr verstörtes Hallo? – und plötzlich,
von Sekunde zu Sekunde, war es ihr zum ersten Mal peinlich, daß die anderen
Gäste im Coffeehouse schwiegen und sie, mehr oder weniger dezent, aus den
Augwinkeln beobachteten. Swentja schulterte ihre pinkfarbene Handtasche und
trat auf die Straße hinaus.
Wenn Johnny irgendwas Gutes besaß, dann war es seine Liebe. Für ihn
war Swentja eine schöne junge Frau, der er nötigenfalls sein
herausgeschnittenes Herz zu Füßen legen würde. Das gefiel ihr, und allein
deswegen war sie schon so lange mit ihm zusammen. Daß sie nicht besonders
hübsch, geschweige denn schön war, wußte sie selbst. Johnny hatte sie dies
stets vergessen lassen, er, und nur er, niemand sonst, hatte ihr das Gefühl
gegeben, daß sie etwas Besonderes, Einzigartiges war. Swentja
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