Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
der Kerl habe nach Ärger ausgesehen, und der
Bahnhofsvorplatz werde sicher videoüberwacht.
Allen war unwohl, weit über den Moment hinaus. Sie standen noch eine
Weile rum und setzten zu unbeholfenen Diskussionen darüber an, was genau und
warum geschehen war. Und obwohl sie ahnten, daß etwas geschehen war, das nicht
so leicht aus der Welt zu schaffen sein würde, thematisierten sie genau das
nicht, redeten nur über die quasi technischen Aspekte des Vorfalls. Ein Gefühl
der Scham senkte sich auf alle, was dazu führte, daß sie noch eine zweite Weile
herumstanden, diesmal schweigend, bevor sie wie auf ein geheimes Signal hin
auseinandergingen, Ümal nach links, seine ehemaligen Freunde nach rechts.
Johnny hatte seine Mittagspause nach hinten verlegt und
lauerte Swentja an ihrer Schule auf, der Robert-Baum-Oberschule, deren neunte
Klassenstufe sie besuchte. Seit über sechsunddreißig Stunden hatte sie keine
seiner SMS beantwortet. Er war von der
natürlichsten Erklärung ausgegangen, daß sie tot sein oder im Koma liegen
mußte, und wenn er jetzt hier vor dem Haupteingang ihres Gymnasiums stand, dann
einzig in der letzten, verzweifelten Hoffnung, daß vielleicht nur ihr Handy den
Geist aufgegeben hatte. Als Swentja endlich durch das Tor trat, ächzte er laut,
fiel auf die Knie und stammelte ein Gebet. Swentja traute ihren Augen nicht.
Das Benehmen ihres Lovers , oder wie immer man ihn nennen sollte, war mit dem
Wort peinlich nicht mal annähernd zu beschreiben. Beinahe wäre sie wortlos an ihm
vorbeigehetzt, hätte ihn durch demonstrative Nichtbeachtung gestraft, aber er
hätte ihr vielleicht nachgerufen oder sonst irgendwie auf sich aufmerksam – und
damit nur alles noch schlimmer gemacht.
»Was willst du?«
»Ich dachte, du bist tot, Swentja. Nein, du lebst!«
»Kannst du bitte mal aufstehen?«
Johnny erfüllte ihr die Bitte sehr gern, seine Knie schmerzten, und
das Straßenpflaster war feucht und schmutzig.
»Es ist aus zwischen uns.«
»Was?«
»Was da immer war, Johnny! Ich weiß nicht mal genau, was da
eigentlich war. Wir beide passen nicht zusammen, siehs ein.«
Johnny begriff nicht. Ihre Worte trafen ihn wie Faustschläge. Das
war nicht sie, nicht seine Swentja, er weigerte sich zu begreifen, oder gar zu
akzeptieren, was sie da sagte. Diese schrecklichen, grausamen Worte konnten
einfach nicht aus ihrem Mund kommen. Der Teufel mußte von Swentja Besitz ergriffen haben.
»Nimms leicht.« Sie seufzte bedauernd, was Johnny für eine
erstaunlich menschliche Regung des Teufels hielt, unglaublich raffiniert. Er
bekam eine ungefähre Ahnung vom Ausmaß des Bösen, das ihm hier entgegentrat.
»Machs gut!« Sagte sie.
Er hörte im Hintergrund Luzifer lachen. Das arme Mädchen. Johnny
fühlte sich kotzübel. Nach einer abscheulich langen Phase wehr- und planlosen
Entsetzens geriet Bewegung ins Räderwerk seines Denkens. Es hatte wenig Sinn,
mit Luzifer zu debattieren. Der gefallene schwarze Engel war (warum eigentlich,
allmächtiger Gott?) mächtig und brutal, und er nur ein junger Mann, dem nichts
zur Verfügung stand als seine bedingungslose, zu jedem Opfer bereite Liebe.
Swentja lief fort, mit dem hohnlachenden Teufel auf ihren Schultern,
der sie peitschte und beflüsterte, zur Bushaltestelle. Erschütternd.
Janine dachte nach. Sie hatte ihre depressiven Phasen,
während derer sie regelmäßig überhastete Entscheidungen traf. Andererseits war
sie inzwischen alt genug, um jene Überhastung reflektiert einzukalkulieren,
somit abzuschwächen. Die Pfennigs passten ihr dennoch nicht ins Weltbild.
Schlimm genug, daß Janine selbst nicht mehr schöpferisch tätig
werden konnte. Sie unterrichtete junge Nachwuchskräfte, in der Hoffnung, daß
aus irgendeinem jener Pflänzchen künftig etwas Großes erwachsen würde,
unwahrscheinlich genug, aber immerhin theoretisch möglich. Janine fand es unter
ihrer Würde, die Pfennigs überhaupt nur zu begutachten. Mit knappen Worten wies
sie auf ihren vollen Terminkalender hin und geleitete das Paar ohne weitere
Erklärungen zur Tür. Ein kurzer Wortwechsel war nicht zu vermeiden. Danach
bekam Janine ein schlechtes Gewissen. Sie fuhr sich mehrmals wild durchs Haar,
rieb ihre Hände gegeneinander und schmiß das schlechte Gewissen, mitsamt der
schlecht gewordenen Wurst aus dem Kühlschrank, in den Müll.
15
Thomas Stern war mit seiner Frau Sarah nun seit fast
zwanzig Jahren verheiratet und stolz darauf, vor ihr keine großen Geheimnisse
haben zu müssen. Er
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