Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
durch göttliche Musik auf Dauer vertrieben werden. Zumal ja
selbst bei Punks der Name Beethoven dank Kubricks Clockwork Orange keinen
ganz üblen Ruf besaß. Hier waren brave, mittelmäßig originelle Bürokraten am
Werk gewesen, die weder Ahnung von Musik noch von Folter besaßen.
    Thomas Stern hatte in seiner Jugend passabel Klavier gespielt. Und
wenn er auch nie mit dem nötigen Talent gesegnet gewesen war, eine musikalische
Karriere einzuschlagen, plagte ihn doch das schlechte Gewissen, längst alles,
was er einst gelernt hatte, vergessen zu haben. Irgendwann war in ihm die
Entscheidung für ein sicheres Leben in Wohlstand gereift. Das ging schon in
Ordnung, an ihm war, wie gesagt, kein zweiter Mozart verlorengegangen, weiß
Gott nicht. Und wiewohl er für das Höhere im Leben – Musik, Kunst, Literatur –
eine sensible Antenne besaß, so schätzte er doch auch die Vorteile, die ihm
jene sehr bewußt getroffene Grundsatzentscheidung zugeschanzt hatte, als da
waren: wenig Langeweile durch enorm viel Arbeit, ein hübsch gelegenes,
geräumiges Häuschen, eine liebreizende Frau ohne Kinderwunsch, die auch sonst
kaum Zicken machte, eine sportliche, hinreißende Geliebte, die nicht
übertrieben kostspielig war, dazu sieben Wochen Urlaub im Jahr. Was konnte ein
durchschnittlich begabter Mann schon mehr verlangen von diesem relativ kurzen
Leben? Gut, sicher, er würde der Menschheit keine Geschenke hinterlassen, würde
unbesungen begraben und binnen dreier Generationen vergessen werden. Aber
geschadet hatte er doch auch niemandem. Nein, Thomas Stern war mit sich im
reinen, als er plötzlich angerempelt wurde, vor dem Bahnhofsportal.
    Da stand ein junger Südländer, samt seiner Entourage von fünf
anderen Jugendlichen, und richtete das Wort an ihn. Weshalb bloß? Stern
erinnerte sich erst, als er auf den weißen Basketballschuhen des Jünglings mit
mutmaßlichem Migrationshintergrund schwachrosa Reste eines Blutflecks
entdeckte.
    »Hey, das ist der Typ! Na, wo wollen wir denn hin?«
    Stern begriff, daß es nun auf Schnelligkeit ankam. Diesmal war Carla
nicht hier, um ihn zu beschützen. Er war auf sich allein gestellt, und wenn ihn
die Bande erst in der Mangel haben würde, konnte alles zu spät sein. Bestimmt
erwarteten sie von einem distinguierten Herrn wie ihm höchstens eine rein
rhetorische Verteidigung. Darin lag seine Chance. Er hätte später nicht
erklären können, warum das alles so und nicht anders verlief. Seine Faust
landete im Gesicht des jungen Türken, der zu überrascht war, um an Deckung
überhaupt zu denken. Ümal Nurbekoglu ging zu Boden, und seine Kumpane taten
nichts, um diese Schandtat zu rächen. Sie sahen Dr. Stern ausdruckslos
hinterher, wie der, als wäre nichts weiter passiert, durch die Unterführung zu
seinem ICE nach Berlin eilte. Als sich der Zug
nach dreißig endlos langen Sekunden in Bewegung setzte, schwenkte Stern beide
Hände in der Luft und stieß einen Triumphschrei aus.

14
    Sie seien, sagte der Mann, Robert, für die nächste
Amateur-Stadtmeisterschaft in lateinamerikanischen Tänzen qualifiziert.
    »Schön. Gratuliere. Und von mir wollen Sie was genau?« Janine
begutachtete das Paar, beide etwa fünfunddreißig – dergleichen ältliche Kundschaft
hatte noch nie auf ihrer Matte gestanden.
    »Wir wollen«, sagte Maschjonka Pfennig, »von Ihnen lernen. In der
Begründung der Jury hieß es, wir hätten ein Gefühl für Präzision und Rhythmus,
es würde uns allein noch ein wenig an Anmut fehlen.«
    »Ich unterrichte klassisches Ballett. Und zeitgenössischen
Ausdruckstanz. Mit lateinischen Standardtänzen hab ich nichts am Hut.«
    »Mag sein, aber es geht doch im Grunde um Bewegungsabläufe. Und
Anmut. Wir wirken hier und da vielleicht ein bißchen … zackig. Das kommt vielleicht,
weil Robert – nun, wir haben da eine lange Diskussion gehabt –, weil er
vielleicht unterbewußt ein wenig Angst hat, schwul rüberzukommen, was
ich persönlich weit hergeholt finde.«
    Robert sah leicht genervt an die Decke, unterbrach seine Frau aber
nicht.
    »Jedenfalls wollten wir mal eine dritte Meinung einholen, von
jemandem, der sich in Sachen Anmut professionell auskennt und uns ein paar Tips geben
kann. Der einen anderen Blick auf uns hat.«
    »Was habtn ihr euch dabei gedacht? Ihr Arschlöcher!« Ümal
betatschte seinen Kiefer, er stampfte auf den Boden, war wütend und enttäuscht.
Seine Freunde gerieten in Erklärungsnot. »Das ging so schnell«, murmelte einer,
ein anderer meinte,

Weitere Kostenlose Bücher