Einstein - Einblicke in Seine Gedankenwelt
ein Vorwind zu spüren war. Wie nun, wenn in die Weltgeschichte und damit in die Weltanschauung eine andere Notwendigkeit hineingespielt hätte? Wir wissen heut aus urkundlichen und unbezweifelten Darstellungen, dass alles von uns in Krieg und Revolution Erlebte an dem haarfeinen Faden einer vereinzelten, äußerlich ganz unscheinbaren Menschenexistenz gehangen hat; – an einer Bürokratenfigur in der Wilhelmstraße, an einem galligen Sonderling, der das englisch-deutsche Bündnis, um die Jahrhundertwende sechs Jahre lang immer wieder von drüben dringlich angeboten, zu vereiteln gewußt hat.
In dem dröhnenden Gang der Historie kann die geheime, kleinliche Nagearbeit eines Maulwurfs nicht als weltgeschichtliche Notwendigkeit gewertet werden. Denkt man sie aus dem Gesamtbild fort, so bleibt als Ergebnis das genaue Gegenteil unserer Erlebnisse. Der Absolutismus wäre nicht über Bord gegangen, sondern er hätte voraussichtlich erstarkt auf Jahrhunderte dasSteuer geführt, als Exponent einer deutsch-englischen Welthegemonie. Und eine grundsätzlich anders gerichtete Weltanschauung würde heut auf dem Erdball regieren.
Aber die Einsteinsche Relativitätstheorie hätte danach nicht im geringsten gefragt. Sie wäre entstanden unabhängig von Formen der geschichtlichen Weltanschauung, nur aus dem Grunde einer geistigen Fälligkeit. Eben deswegen, weil Einstein lebte und dachte. Und die Frage, ob sie auch für den Nichtphysiker den Absolutismus erschüttert hätte, ist nicht zu beantworten.
Ja, man könnte sogar bezweifeln, ob sie überhaupt schon fällig war. Bei manchen bedeutsamen Geisteserscheinungen läßt sich dies fast auf das Jahrzehnt nachweisen. So etwa bei der Deszendenztheorie, die tatsächlich in mehreren Köpfen gleichzeitig keimte, und unbedingt aus einem herausspringen mußte, selbst wenn die andern versagten. Ich möchte die Ansage wagen: Ohne Einstein hätte die Relativitätstheorie im weitesten Sinne, also mit Einschluß der neuen Gravitationslehre, möglicherweise noch zweihundert Jahre auf ihre Geburtsstunde zu warten gehabt.
Der Widerspruch beginnt sich zu lösen, wenn man die Zeiträume weit genug absteckt. Die Weltgeschichte richtet sich nicht nach den Zeitmaßen der Politik und des Journalismus, und die Weltanschauungen rechnen nicht nach den Einheiten der Tagesuhr. Die Weltanschauung des Aristoteles hat das Mittelalter beherrscht, und die des Epikur wird sich vielleicht erst in der kommenden Generation voll durchsetzen. Gibt man aber den säkularen Maßstab zu, so bleibt der Zusammenhang zwischen ihr und der großen Entdeckung bestehen.
Wer es unternimmt, dieser Bedingtheit nachzuforschen, der kann an der Tatsache nicht vorbei, dass das Resultat allerdings fast durchweg schon nachweisbar vorgebildet war, in reiner Anschauung, bevor noch die große Entdeckung – oder Erfindung – es in voller Begreiflichkeit hinzustellen vermochte. Selbst die Tat eines Kopernikus würde sich dieser allgemeinen Entwickelungsregel fügen: Sie war die letzte Ausfolgerung des sonnenmythologischen Bewußtseins, das die Menschheit niemals verlassen hatte, mochte auch Kirche und Eigenwille noch so stark auf die geozentrische Anschauung hindrängen. Kopernikus faßte zusammen, was aus uralter Priesterweisheit – und die reicht bis in energetische und elektrische Vorstellungen von heute – was aus Anaxagoras und Eleaten unter der Schwelle des Bewußtseins sich lebendig erhalten hatte, seine Entdeckungwar die Verwandlung eines Mythos in Wissenschaft. Die Menschheit, die mit schweifender Phantasie ahnt, dann denkt und wissen will, bedeutet die Großausgabe des einzelnen Denkers. Der sieht nur weiter, da er sozusagen auf den Schultern einer weltanschauenden Gesamtheit steht.
Nehmen wir ein Beispiel aus der neuesten Anschauungs- und Entdeckungsgeschichte. Der Ablauf der Geschehnisse in völliger Stetigkeit und Lückenlosigkeit gehörte zu den allgemeinen Denkformen, wird auch noch heute von ernstzunehmenden Philosophen als ein sicherer Bestandteil der Weltanschauung vorgetragen. Der alte, durch Linné popularisierte Satz »die Natur macht keine Sprünge« gehört zu den Wortformeln dieser anscheinend unantastbaren Erkenntnis. Aber im Unterbewußtsein der Menschen hat stets ein Widerspruch dagegen bestanden, und wenn der französische Philosoph Henri Bergson es unternahm, mit metaphysischen Mitteln jene Stetigkeitskette zu zerreißen, der menschlichen Erkenntnis einen sprunghaften , geradezu kinematographischen
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