Eis
nicht auch noch damit. Es wird ja nicht mehr lang dauern. Es ist April. In ein paar Tagen ist der Schnee weg, wir werden verschnaufen, und ich kann in Ruhe mit ihm reden. Wenn wir so lang ausgehalten haben, werden wir uns noch ein wenig gedulden. Nur noch ein paar Tage.“
„Wenn der Schnee schmilzt, wird es Hochwasser geben. Es wird andere Nöte geben, und wieder wird es unpassend sein, von deinen Nöten zu sprechen. Ich sehe, wir werden aus diesem Loch von Wohnung nicht mehr ‘rauskommen.“
„Wir werden, wir werden! Du wirst sehen, ich werd ihn noch einmal bitten, er wird intervenieren, er wird anordnen, wenn es sein muß, und am Ende kommt alles in Ordnung. Wir sind nicht umsonst alte Freunde. Im übrigen – es geht uns gar nicht am schlechtesten. Wie mag es erst denen zumut sein, die jetzt draußen sind, auf den Strecken. Den Lokführern, Heizern, Weichenstellern und all denen, die mit dem Schnee kämpfen.“
„Ich wußte es! Ich wußte, daß du dich mit denen vergleichen würdest. Daß du mit gesenktem Kopf, den Blick auf deine Schuhspitzen gerichtet, nur diejenigen unter dir sehen würdest. Warum schaust du nicht wenigstens einmal auch vis-a-vis? Dort brennen schon wieder alle Lichter, als wenn bei ihnen ständig große Gesellschaft war. Zu zweit sitzen sie in sieben Zimmern und müssen nicht Strom sparen.“
Endlich stellte sie die Schüssel auf den Tisch. Sie nahmen zum Abendessen Platz und schlangen die Speisen schweigend hinunter, bei verrauchter Beleuchtung tief über die Teller gebeugt. Auch die anderen, in der Umgebung verstreuten Fenster funkelten und flimmerten vor Kälte wie Sterne vom klaren, blanken Himmel. Auch in den anderen Häusern, Wohnungen und Stuben plauderte, döste und wärmte sich das versammelte Menschengeschlecht.
Nichts Neues und nichts Außergewöhnliches. Nur daß der April bereits voll im Gange ist und der Schnee immer noch über der Erde liegt und kein Zeichen von sich gibt und keine Lust zeigt, sich zurückzuziehen.
Auch in der Welt ist alles, wie es soll. Gewöhnlich, alltäglich. „Der kalte Krieg geht weiter – dem Wetter entsprechend“, wiederholen die Rundfunkkommentare. Abends berichtete die „Novosti“ von ein paar Flugzeugabstürzen, Streiks, Verhaftungen, Erpressungen und Morden und morgens auf nüchternen Magen die „Politika“ von Atombomben, Krieg, Aufständen und Revolutionen. Und obwohl es an derlei außergewöhnlichen und erregenden Nachrichten nicht fehlte, gingen die Zeitungen seit einiger Zeit dennoch dazu über, sich, wie die englischen, immer mehr mit dem Wetter zu befassen. Langsam und allmählich, für die Leser wie für die Zeitungsleute fast unbemerkbar, schaffte der Wetterbericht sich von der letzten Spalte der letzten Seite immer mehr empor, bis er am Kopf der dritten Seite angekommen war. Er nistete sich auch in den Überschriften der außenpolitischen Artikel ein, wuchs an, verbreitete sich über eine ganze Spalte und nahm zusammen mit den Beiträgen, die ihn kommentierten, bereits mehr als eine halbe Seite ein.
Die Artikel waren gemischt. Sie handelten vom Schnee, den es vor fünfzig Jahren an einem ersten April geschneit hatte, so daß niemand glaubten wollte, daß er echt und nicht ein Aprilscherz war; und von einem anderen Schnee, der unmittelbar zu Kriegsbeginn am zehnten April gefallen war und die Tätigkeit der feindlichen Luftwaffe behinderte. Und dann gab es da noch ernsthafte wissenschaftliche Abhandlungen verschiedener Meteorologen und Klimatologen, die sich mit den Veränderungen des Klimas während der letzten fünfzig Jahre befaßten, das durch Kahlschläge, Industrierauch und die künstlichen Seen der Kraftwerke beeinflußt worden sei. Ärzte schrieben über die Wirkung von Vitaminen in dieser Übergangszeit, da unsere Ernährung einförmig ist und sich hauptsächlich auf Brot und Kartoffeln reduziert. Andere sprachen von Rheuma und Tuberkulose, von der asiatischen Grippe und ähnlichen Infektionen, die hauptsächlich zur feuchten Frühlingszeit grassieren, und fanden heraus, daß dieser der Jahreszeit nicht entsprechende Frost auch nützlich sein könne. Obstzüchter waren der Meinung, dieser späte Schnee werde das zu frühe Aufblühen der Obstbäume verhindern und der Frost die Brut der Apfelstechfliege und anderer Schädlinge vernichten. Die Agrarexperten waren geteilter Meinung; die einen sagten, der Schnee werde die Erde tüchtig tränken, so daß es keine Frühjahrsdiirre geben werde, die anderen fürchteten den
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