Eis
schon, worum es sich handelte.
„Reif“, sagte er. „Frost. Schon bis hierher durchgedrungen …“
Sie vergaßen die kleine Figur, die in lauter Stückchen zu ihren Füßen lag. Stumm, wie verhext, standen sie da und starrten den Schimmelfleck an – der langsam, aber doch sichtbar, Millimeter um Millimeter, in die Breite und in die Höhe zu wachsen schien, einer Krankheit gleich, und die Wand unter sich bedeckte und verschlang.
Da begann Frau Krekić zu weinen. Ihre Schultern bebten in kleinen Stößen, und ihr Mann legte seinen Arm um ihre Hüfte.
Es war allerhöchste Zeit, daß etwas unternommen wurde. Teils öffentlich, teils heimlich verfügten alle Staaten Schutzmaßnahmen. Sie sicherten sich. Nach allen Seiten hin. Was die einen unterließen, unternahmen die anderen, und das erste, was sie alle taten, war, daß sie ihre Grenzen sperrten.
Als wollten sie alle Fenster und alle Türen zustopfen und sie von innen mit Papier zukleben, damit kein Atemzug frischer Luft ins Haus eindringen konnte – wie Grenzer, die achtgeben, daß sich niemand über ihre Grenze stiehlt, und wie Zöllner, die den Schmuggel unerwünschter Waren verhindern wollen.
Zuerst wurden auf den Landstraßen – Züge verkehrten ohnehin keine mehr – irgendwelche lächerlichen Betonhindernisse aufgestellt, damit den Einwohnern nördlicher Länder, von Schnee und Eiszeit aufgescheucht, Reisen in den Süden unmöglich gemacht würden. Nachdem aber Ausreißer das auf Umwegen doch getan hatten, wurden Hindernisse auch im Osten und Westen errichtet. Vom Süden her befestigten sich die anderen – um sich gegen den Norden zu sichern, und so gab es keine freie Grenze mehr.
Indessen, alles das erwies sich bald als ungenügend und unbrauchbar. Die Straßen waren schon unpassierbar und so verweht, daß man ihren Verlauf nicht mehr erkennen konnte. Kaum waren die Grenzen noch zu erkennen, und jetzt konnte über sie hinüberwechseln, wer immer Lust hatte. Unter großen Anstrengungen und gewaltigen Opfern errichteten die Staaten entlang ihrer gesamten Grenzen Masten, die durch fünffach geflochtenen Stacheldraht miteinander verbunden waren, der Stacheldraht wurde unter Hochspannung gesetzt, die Hochspannung wärmte freilich nicht, doch tötete sie auf der Stelle. Menschen kamen da nicht durch, aber gewisse Tiere, besonders Wölfe, aus dem Norden kommend, fanden Durchschlupf, weshalb vor den Drahtverhauen auch noch tiefe Wolfsgruben ausgehoben wurden.
Diese großen öffentlichen Arbeiten hatten in manchen Ländern auch große öffentliche Affären zur Folge. Es wurde behauptet, den einzigen Nutzen von alledem hätten Unternehmer und Minister. In anderen Ländern hörte man Einsprüche anderer Art. Vor wem und vor was schützen wir uns mit Stacheldraht? fragten sich die Leute. In Wirklichkeit haben wir uns nur selbst in ein Konzentrationslager eingestrickt. Wer wird so verrückt sein und uns besuchen wollen, wenn wir am liebsten selber irgendwohin davonlaufen möchten. War es da nicht besser gewesen, irgendwelche wirksamen Maßnahmen gegen die Kälte zu unternehmen, die viel gefährlicher und unangenehmer ist als ungerufene Gäste? Es war vernünftiger gewesen, wenn man an Stelle dieses löcherigen, zugigen Drahtzauns gleich eine hohe, solide Mauer errichtet hätte, die unserem Land zugleich Schutz vor überflüssigen Besuchern und vor den kalten Winden bieten würde.
Gesagt, getan. In den meisten Staaten wurden sogleich, nach dem Vorbild der alten, weisen Chinesen, an den Grenzen entlang hohe Mauern aus Stein und Beton aufzurichten begonnen. Und davor, genau wie vor mittelalterlichen Burgen, wurden tiefe Gräben ausgehoben, die das von Norden vordringende Eis zum Stehen bringen sollten. In Wirklichkeit hatte alles das nur psychologische Wirkung. Die Gräben, in denen sich Wasser angesammelt hatte, froren als erste zu, und der Wind wehte weiterhin frei daher, als habe er sich darin geübt, Mauern zu überspringen. Im übrigen kam die Kälte auch von oben, vom klaren, heiteren Himmel, und breitete sich auch ohne einen Windhauch aus – als falle sie direkt aus den Sternen herab.
Also, man mußte sich vor allem nach oben schützen. Die älteren, gläubigen Menschen fragten sich: „Aber – wer will dem Auge Gottes entkommen? Wer will eine Mauer zwischen uns und dem Himmel aufrichten?“ Die Jüngeren und Unternehmungslustigeren schlugen vor: „Es war gut, ein gläsernes Dach über uns aufzustellen wie über den Mistbeeten im Winter und
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