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Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)

Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition)

Titel: Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Krzywik-Groß , Torsten Exter , Stefan Holzhauer , Henning Mützlitz , Christian Lange , Stefan Schweikert , Judith C. Vogt , André Wiesler , Ann-Kathrin Karschnick , Eevie Demirtel , Marcus Rauchfuß , Christian Vogt
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dicken Vergrößerungsglas beiseite und öffnete die Hand.
    Es erhob sich. Es flog.

    Der Schnabel des mechanischen Vogels öffnete sich, und ein wunderschöner Ton erklang. Ein volles, glasklares C. An der Schnabelinnenseite war ein zierliches Häkchen befestigt, das eine millimeterlange Geigensaite angeschlagen hatte. Der Singvogel folgte dem Ton, drehte sich in Spiralen zur Zimmerdecke hinauf. Flügel aus dünnem Blech, leise, aber kraftvoll schlagend. Harmonie. Der Leib aus Kupfer, golden schimmernd und dem einer Meise nachempfunden. Hinten ein kleiner, eckiger Schwanz, der lustig auf und ab wippte. Begeistert beobachtete er den Flug, der ihm wie ein Naturschauspiel erschien. Wie etwas Lebendes.
    Ein Donnern zerstörte den Augenblick, sprengte ihn mit dunkler Kraft. Der Vogel begann zu trudeln, steuerte auf ein verstaubtes Bücherregal zu. Wieder ein wuchtiger Schlag. Gegen die Wand der Wohnung, gegen die Fensterläden des Kellerfensters. Dumpfer Aufprall von Fäusten, der das Holz erschütterte und knarren ließ. Erschrocken war er aufgesprungen. Sein Herz raste, zuckte qualvoll vor Angst. Etwas kratzte übers Holz, schabte daran, als begehre es Einlass. Vorsichtig ging er aufs Fenster zu. Er hörte etwas schlurfen, als krieche jemand auf der verschneiten Straße herum. Klappernd flog der Vogel ins Bücherregel. Ein klägliches C erklang, zitterte in der Luft und erstarb. Er spürte, wie sich die Furcht in seinem Leib veränderte. Ein tiefrotes Pulsieren, das in Wut überging. Welches Pack wagte es, nachts gegen fremde Fenster zu schlagen? Ein raues Ächzen antwortete ihm. Pfeifender Atem. Er erinnerte sich an die böse Kehlkopfentzündung, die sein Freund Randolph im vergangenen Herbst erlitten hatte. Seine Stimme hatte ähnlich geklungen. Als sei er kurz vorm Sterben, habe schon am Eis der Grabstätte geleckt.
    Mit zitternden Fingern öffnete er die Fensterläden und lugte hinaus. Ein Schrei stieg in seiner Kehle auf, aber der Schreck war zu groß, schnürte ihm die Gurgel zu. Keuchend wich er zurück. Auf der gefrorenen Straße lag etwas. Nein, jemand. Starre, irre Augen, die hektisch hin und her zuckten. Zutiefst verstörend in dem nahezu reglosen Gesicht. Tiefe Falten, wie mit rostigen Klingen geschnitten. Rissige Lippen. Haut, so bleich wie die Seele des Todes. Die Hand des Fremden wand sich wie unter Krämpfen. Schlug immer wieder unkontrolliert gegen die Fensterläden. Er konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Schwärze der Nacht war ihm gnädig gesonnen und verbarg einen Großteil der schrecklichen Gestalt. Ein Ruf erklang. Ihm folgte ein zweiter Schemen. Aufrecht gehend und augenscheinlich in Eile. Er erreichte den liegenden Alten und packte ihn grob im Nacken. Keuchen, Grunzen, Töne wie von einem verdurstenden Tier.
    Er lief zum Regal, griff den erlahmten Vogel und stürmte aus seiner Kellerwerkstatt.

    Er hatte zu fliehen versucht. Schwere Gedanken kreisten in ihrem Kopf, drückten sie in den alten Ohrensessel. Er hatte es doch gut bei ihr gehabt. Sie gehörten zusammen. Aber er hatte es zerstören wollen, war aus der Kammer geschlichen, hinaus in die Nacht. Fort von ihrem gemeinsamen Heim, fort aus ihrem Leben. Sie seufzte tief und schwer. Ihre Lunge tat weh, auch wenn das schmerzende Gefühl von der Taubheit endloser Enttäuschung überdeckt wurde. Sie hatte ihn aufgelesen und gefangen. Zurückgebracht. Angekettet.
    Josephine und Alan Norly – für die Ewigkeit, so hatte ihr Schwur vor Gott in Anwesenheit ihrer Familien gelautet. Damals, als Æsta noch ein ferner Gedanke gewesen war und sie im stechenden Eisregen des südlichen Ænglands ein erstes, gemeinsames Heim gefunden hatten. All die Jahre … Glück und Wärme, Schmerz, Streit und Versöhnung. Besinnen auf das Wir. Mochten die Zeiten auch hart und unerbittlich sein, die Arbeit schwer und der Mühe Lohn so gering, dass Hunger wie ein schleichendes Gespenst in jedem Winkel ihres Heims hing, nichts hatte sie entzweit. Nie.
    Er hatte zu fliehen versucht. Der Gedanke hämmerte auf sie ein. Doch er besaß keine klaren Umrisslinien. Diffuser Schmerz, der sich in sie grub und tief sank. Er weckte keinen Kummer, keine Wut oder Verzweiflung. Er war einfach da. Pulsierte, schlug wurmhafte Wurzeln in ihr Innerstes und richtete sich ein, zu bleiben.

    Das Morgengrauen war ein langsames Kriechen, das über den Horizont zog und die dicken Eisschollen nur zögerlich zum Funkeln brachte. Li sah mit müden, geröteten Augen aus dem

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