Eis und Wasser, Wasser und Eis
Bierkrug an, sie lächeln, aber die Blicke sind leer, alle sind tief versunken in die Bewegung und den Rhythmus. Doch als der Krug leer ist und Magnus ihn triumphierend in die Luft streckt, da bricht der Jubel los. Ja! Er hat es geschafft!
Anders lehnt sich gegen den Bartresen und packt seinen eigenen Krug, versucht die Melodie wegzuschieben, die aus der Stereoanlage dröhnt. I’m a man of constant sorrow … Nein. Er ist ein leicht beschwipster praktischer Arzt, dem soeben der Schädel rasiert wurde. Vorsichtig streicht er sich über die Kopfhaut, die glatt und kühl ist unter seiner rechten Hand. Nicht, dass es so einen großen Unterschied macht, es gab ja nicht besonders viel zu rasieren, und wenn sein nackter Schädel zur Unterhaltung beiträgt, warum nicht. In seinem gesamten erwachsenen Leben – und ganz besonders seit dem Tag, als er mit leichtem Schuldgefühl eine Patientin heiratete – hat er beharrlich die professionelle Distanz gewahrt. Jetzt ist er nicht mehr verheiratet, zumindest nur noch auf dem Papier, und jetzt scheißt er auf die professionelle Distanz. Er scheißt sogar darauf, nüchtern zu bleiben. Wenn sich jemand an diesem Abend das Bein bricht, dann ist er selbst schuld. Der Doktor denkt gar nicht daran, es zu schienen oder zu gipsen. Der Doktor hat sich besoffen.
Um halb drei Uhr am Nachmittag hat die Oden den Polarkreis passiert, und eine Viertelstunde später sind König Neptun und seine Gemahlin an Bord gekommen, das heißt ein verkleideter Maschinist mit Königskrone und Dreizack und eine Frau aus der Messe in Silberbikini und mit schwarzen künstlichen Wimpern. Forscher und Gäste wurden ins Raucherzimmer gescheucht und dort mit ein paar Paletten Bier eingeschlossen, dann kamen Männer von der Besatzung, als Piraten verkleidet, herein und holten sie, einen nach dem anderen. Die Hände hinter den Rücken gefesselt, wurden sie lachend an Deck geführt, wo sie mit dem Kopf in einen Trog mit eiskaltem Meerwasser getaucht wurden; dann wurden sie in den Sportraum geführt, wo sie der verkleidete Steuermann mit einer Heckenschere erwartete. Hier sollte geschnitten werden! Der weibliche Teil der Forscher saß jammervoll mit geschlossenen Augen auf dem Boden, während ein Matrose sie an den Haaren zog und mit der Heckenschere hinter ihnen in der Luft klapperte. Vielleicht machten sie es bei den anderen Männern auch so, vielleicht war es nur Anders, der tatsächlich rasiert wurde. Und deshalb wurde er wohl mit Jubel empfangen, als er schließlich, immer noch gefesselt, in die Bar geführt wurde, um ein Glas Meerwasser zu trinken. Guckt mal! Dem Doktor haben sie den Kopf rasiert!
Und jetzt sind alle getauft, das Fest ist in vollem Gange, die Musik dröhnt, die Forschung ist für heute beendet, und in der Bar ist es voll. Ein paar der erfahrensten Polarfüchse haben bereits angefangen zu tanzen. Ulrika wiegt sich vor einem jungen Chemiker in den Hüften, eines der Messemädchen wirft den Kopf in den Nacken und lacht einen jungen Steuermann an, Sture versucht mit einer Sachbearbeiterin aus dem Polarsekretariat eng zu tanzen, obwohl es nicht die Musik dafür ist.
»Volle Kanne. Prost!«
»Prost.«
Ola hebt seinen Bierkrug Anders entgegen.
»Dich haben sie also rasiert?«
»Ja.«
»Ihn da hinten auch.«
Ola macht eine Kopfbewegung hin zu einem Mann mittleren Alters mit grauem Pferdeschwanz. Anders schließt die Augen und versucht sich an dessen Namen zu erinnern. Robert. Dozent in analytischer Chemie an der Universität Uppsala.
»Ach ja?«, sagt Anders. »Aber ich finde, es sieht so aus, als hätte er noch ziemlich viel Haar übrig behalten.«
In dem Augenblick zieht Robert seinen Pullover hoch und entblößt vor Jenny, der kichernden Doktorandin, seine Brust. Sie juchzt vor Überraschung. Robert lächelt zufrieden und dreht sich herum, damit alle es sehen können. Jemand hat in seine graue Brustbehaarung einen Kreis rasiert. Ein O. Wie in »Oden«.
»Der reinste Frauenmagnet, der Typ«, sagt Ola. »Trotz seines Alters.«
Ist er ironisch? Oder vom Bier benebelt? Anders nimmt einen Schluck und beschließt, das Thema zu wechseln.
»Ist das deine erste Expedition?«
Ola schüttelt den Kopf.
»Nein. Meine dritte.«
»Geht es immer so wüst zu?«
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres. Aber mal sehen, wie es zur Nacht hin wird. Das kann noch ausarten.«
Anders lässt seinen Blick schweifen. Hinten auf dem Ecksofa ist es eng. Junge Forscher und Forscherinnen und ebenso
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