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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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Geschichtslehrer. Ich hörte aufmerksam zu und merkte mir alles.
    Ich fand die Stadt und das kühle Neue an ihr am Anfang unangenehm. Die Wohnungen waren zwar heller und moderner als das Bauernhaus meiner Eltern, es kam fließend warmes Wasser aus der Wand und es gab eine richtige Toilette. Aber das Alte, Charakteristische vermisste ich. Hier gab es keine Tradition, keine Romantik. Nur Beton.
    In der Schule ging es so streng zu, wie mein alter Deutschlehrer prophezeit hatte. Der Staat zerfiel, der Führung rannte das Volk davon, doch die Lehrer in Eisenhüttenstadt ließen sich davon nicht beeindrucken. Die Produktion kleiner sozialistischer Persönlichkeiten musste weitergehen. »Wir weinen ihnen keine Träne nach«, sagte Honecker über die Ausreisenden.
    In meiner alten Schule im Dorf konnte man damals schon mal mit der Bravo , die Oma aus dem Westen geschmuggelt hatte, unterm Arm herumlaufen. In der neuen Schule hätte man dafür einen Schulverweis bekommen.
    Dauernd mussten wir zu Fahnenappellen antreten. Wir standen auf dem Schulhof, Befehle wurden gebrüllt.
    Links. Rechts. Stillgestanden.
    Hunderte Münder gelobten, dass die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse eines Tages ein Ende haben würde.
    Die Lehrer forderten viel. Der Deutschlehrer ordnete einen Aufsatz über Büchners Woyzeck an, der Biologielehrer fragte die Grundlagen der Photosynthese ab, die Russischlehrerin wollte Gedichte über die heroischen Taten der Sowjetmenschen im Großen Vaterländischen Krieg auswendig hören. Ich hatte Mühe, mitzukommen. Nur Französisch und Englisch fielen mir leicht. Unsere Englischlehrerin, Frau Mai, war etwa 26 Jahre alt, sie war in ihrem Leben noch nicht in England oder in Amerika gewesen, all ihr Wissen stammte von einem gewissen Peter aus Birmingham, der sie in Leipzig am Sprachinstitut unterrichtet hatte, aber das schmälerte nicht ihre Begeisterung. Sie machte alles ein wenig anders. Bei ihr durften wir verbotene Musik hören, die Pet Shop Boys und Michael Jackson. Danach übersetzten wir die Liedtexte gemeinsam.
    Die Tage im Internat folgten einer festen Struktur, fast wie in einer Kaserne. Wir lernten zehn bis zwölf Stunden am Tag. Alles war geregelt, nichts wurde dem Zufall überlassen: 6:00 Uhr wecken, 6:45 Uhr Frühstück, 7:00 Uhr Schulbeginn, 15:00 Uhr Hausaufgaben, 17:00 Uhr Sport, 18:00 Uhr Abendessen, 22:00 Uhr Nachtruhe. Freizeit war nicht vorgesehen.
    Regelmäßig wurden wir zum Tagesdienst eingeteilt. Da musste man wie ein Pförtner am Eingang sitzen und den Verkehr bewachen. Es gab auch ein Hausbuch, in das sich jeder von uns eintragen musste, wenn wir das Internat betraten oder verließen. Ich fügte mich den Regeln, die im Internat galten, automatisch, ich war es gewohnt, nicht aus der Reihe zu tanzen.
    Manchmal vermisste ich es, allein mit meinen Gedanken und Träumen zu sein. Im Internat war man nie allein.
    Aus meiner Klasse lebten acht Mädchen im Internat, wir waren alle neu und alle zum ersten Mal von zu Hause weg. Ich lernte Ina und Marlene kennen. Sie trugen riesige Hornbrillen und sahen aus wie Schwestern, eine blond, eine brünett. Sie kamen aus Berliner Vororten, was man ihnen sofort anmerkte. Sie waren in allem schon etwas weiter, jede auf ihre Art. Ina hörte The Communards, eine Band, von der ich noch nie gehört hatte, und sprach schon etwas französisch, weil sie in Berlin Privatstunden genommen hatte. Marlene war stiller, sie mochte Computer und beherrschte die Programmiersprache Turbo Pascal.
    In den ersten Tagen stand Frau Schinke, die Internatserzieherin, Punkt drei in unserem Zimmer im dritten Stock und scheuchte uns von unseren Betten: »Hausaufgabenzeit«, krähte sie. Ich beobachtete, wie sie dastand, die Hacken zusammengeschlagen, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Frau Schinke war klein, drahtig, mit kurz geschnittenen, rötlichen Haaren. Sie war im Alter meiner Oma, hatte ansonsten aber gar nichts Omahaftes an sich. Sie war Sportlehrerin und als Erzieherin ans Internat versetzt worden. Ich weiß nicht, ob sie Kinder hatte, jetzt steckte sie jedenfalls all ihren erzieherischen Ehrgeiz in uns. Sie hatte eine Wohnung im ersten Stock, in der sie nur schlief. Die restliche Zeit rannte sie umher und pflügte durch das Internat. Ihr Lieblingsspruch war: »Wer rastet, der rostet.« Sie hätte ebenso gut an einer Schule der zwanziger oder dreißiger Jahre funktioniert.
    Wir sprangen von unseren Betten auf und setzten uns an den Tisch. Sobald die Erzieherin weg

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