Eisenkinder
war, schaltete Nancy ihren Recorder an und wir hörten Roxette. Komischerweise nahm uns die Internatsleiterin den Recorder nie weg. Kassetten waren erlaubt. Wir machten Witze über Frau Schinke und ihre Kontrollwut. Wahrscheinlich schnüffelte sie in unseren Sachen, wenn wir in der Schule waren. Später merkten wir, dass sie ganz in Ordnung war. Sie konnte fürsorglicher sein, als ich ihr auf den ersten Blick zugetraut hatte. Wenn eine von uns Fieber hatte, machte sie Wadenwickel.
Nach einer Weile fing ich an, die Bienenwabe zu mögen. Wenn ich an das Internat zurückdenke, denke ich nicht an Kontrolle und Druck, sondern an die Schlupflöcher, die wir schufen, die kleinen Tricks, mit denen wir ausbrachen.
An die kleinen Freiheiten, die wir uns eroberten. Obwohl West-Fernsehen verboten war, verpassten wir keine Folge von »Alf«, dem zotteligen Außerirdischen vom Planeten Melmac, der Katzen für eine Delikatesse hielt und auf der Erde bruchlandete. Die Sitcom über sein Leben bei einer amerikanischen Familie lief damals im ZDF und war Pflichtprogramm im Internat.
Die Anziehungskraft eines zotteligen Außerirdischen war größer als die von Frau Schinke, der Repräsentantin des Staates, zu dessen vielversprechendem Kadernachwuchs wir gehören sollten. Das sagte eigentlich schon alles.
Wir hatten ein ausgeklügeltes Kettensystem. Eine saß direkt neben dem Fernseher am Schaltknopf, die nächste stand an der Tür, um nach Schritten zu horchen. Sobald sie die Erzieherin hörte, wurde umgeschaltet. Wenn Frau Schinke den Raum betrat, lief die »Aktuelle Kamera«, »Du und dein Garten« oder sonst irgendeine Sendung, von der Frau Schinke ahnen musste, dass sie 15- und 16-Jährige nicht interessieren konnte. Aber auch sie spielte mit.
Es ging einzig und allein darum, die Rollenverteilung aufrechtzuerhalten. Die DDR – ganz großes Volkstheater. Manche Rollen sollten noch sitzen, als die DDR schon Geschichte war.
Ich lernte gern, das hatte mich in der alten Schule zu einer Außenseiterin, heute würde man sagen, zu einem Nerd gemacht. Hier waren die meisten wie ich. Wir waren uns ähnlich. Wir kannten niemanden in der Stadt, das schweißte uns zusammen. Es war nicht wichtig, ob unsere Eltern Lehrer, Ärzte oder Schlosser waren. Wir hielten zusammen, wenn es Ärger gab. Wir halfen uns bei den Hausaufgaben, wir trösteten die, die traurig waren. Wir teilten unsere Geheimnisse und Sorgen, unsere Vorlieben und Vorsätze. Vom ersten Tag an gab es ein Wir, ein Gemeinschaftsgefühl, das ich vorher nicht gekannt hatte.
In unserer freien Zeit lagen wir auf unseren Betten und feilten an unseren Einträgen in Nancys Steckbriefheft. Das war, neben dem Fernsehen, die andere Art, dem Alltag zu entfliehen. Sie hatte das Heft mit Sprüchen verziert: »Ärgere nie deinen Lehrer, denn du weißt nie, wie er wirklich ist!«,
»I love lambada«, »Ich glaub, mich schubst ein Ufo!« Drumherum grinsen Gesichter von Stars, die heute längst vergessen sind: Robin Beck, Richard Marx, Mandy Smith, Martika.
Ich weiß nicht mehr, ob Nancy deren Musik wirklich mochte, oder ob sie die Gesichter nur aufgeklebt hatte, weil sie als Sticker in ihrer Bravo steckten. Jede westliche Symbolfigur galt als cool, selbst Mandy Smith, ein One-Hit-Wonder aus England. Wie weit wir uns von der DDR schon entfernt hatten. Noch während wir zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden sollten, suchten wir im Westen nach Leitbildern.
Mittendrin steht: »Steckbriefheft, Kl. 9, Eisenhüttenstadt«. Wir inszenierten uns wie kleine Popstars, wir nennen unsere Lieblingsfilme, unsere Lieblingsbands, unser Lieblingsessen.
Erster Eintrag, 27.9.1989, Name: Karina, 15 Jahre, Augenfarbe braun, Haarfarbe braun, Gewicht 45 Kilo. Hobbys: Radeln, Lesen, Sticken. Lieblingsessen: Broiler, Frikassee, Spaghetti. Lieblingsgruppe: Bon Jovi, a-ha, Duran Duran. Lieblingssänger: Billy Idol, Herbie. Lieblingssängerin: Cyndi Lauper, Whitney Houston. Lieblingsfilm: Die 2, Magnum.
Ich schrieb meinen Eintrag am 9. Oktober 1989, acht Tage, bevor der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker von all seinen Ämtern zurücktrat, einen Monat, bevor die Mauer fiel. In meinem Eintrag ist keine Rede von den Veränderungen, die im Land vor sich gingen. Gleichaltrige in Berlin rannten auf die Straße, zündeten Kerzen an, doch in Eisenhüttenstadt bekam ich von den Montagsdemonstrationen nichts mit.
Trotzdem sind zarte Andeutungen des Wandels zwischen den Zeilen zu lesen. Bands oder Filme der DDR
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