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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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spielten für uns keine Rolle mehr.
    Wie man die Zerrissenheit, die uns immer begleiten würde, schon damals hätte sehen können: Wir liebten Broiler und Bon Jovi, unsere Körper waren noch im Osten, die Köpfe schon im Westen. Ich schrieb:
    Name: Sabine, 15 Jahre, Augenfarbe blau, Haarfarbe braun, Gewicht 53 kg, Hobbys: Lesen, schreiben. Lieblingsessen: Frikassee, Eis, Pommes. Lieblingsfilm: Harem (mit Ben Kingsley). Lieblingsgruppe: Erasure, Eurythmics. Lieblingssänger: Weiß der Geier. Lieblingssängerin: Tiffany.
    Es ist, glaube ich, nicht nötig zu sagen, dass ich mich nicht besonders gut mit Popmusik auskannte. Zu Hause lagen nur Platten von Wagner, Strauss und Beethoven, aus den Glanzzeiten der Oper. Ich mochte klassische Musik und hörte sonst nur, was im Radio lief.
    Mein erstes Album, für das ich Geld bezahlt habe, war »Forever Young« von Alphaville, allerdings erst sechs oder sieben Jahre, nachdem es 1984 in Westdeutschland erschienen war. Im Sommer 1989 summten alle den Song »I Think we’re Alone Now«, es war ein Remake eines Hits aus den Sechzigern, den eine junge Kalifornierin namens Tiffany vortrug. Ich glaube, ich mochte diese Tiffany gar nicht besonders.
    In dem Video tanzte sie überall herum, in einem Einkaufszentrum, am Strand, im Auto, vor einem Flugzeug. Ich hasste es, wie ausgelassen und unbeschwert sie wirkte, als ob es toll wäre, jung zu sein. Ich war eine jener 15-Jährigen, die es nicht erwarten konnten, erwachsen zu werden. Ich trug trotzdem Tiffany ein, weil mir niemand anders einfiel.
    So vergingen im Internat die Wochen. Unser Land zerfiel, und wir flüchteten uns in eine Art Facebook-Profil. Im Rückblick ist das Steckbriefheft ja nichts anderes als ein analoges Facebook. Wir wollten längst nicht mehr als Kollektiv wahrgenommen werden, sondern als individuelle Charaktere.
    Die letzte Frage im Steckbriefheft lautete: Berufswunsch?
    Die künftigen sozialistischen Persönlichkeiten träumten von bürgerlichen Berufen. »Unternehmer«, schrieb Ina. »Rechtsanwalt«, trug Conny ein. Ich schrieb: »Journalistin«.
    Am besten gefällt mir Anjas Eintrag. Anja schrieb: »Über Indianer forschen und einmal 2–3 Monate mit Indianern leben«. Sie hatte längst begriffen, wie die DDR funktionierte, es war ein Indianerspiel.

Die Tränen des Cowboys
    24 Schüler gingen in die Klasse 9a, sie zerfiel in zwei gleich große Teile, die nie recht zusammenwachsen wollten, die Internatler und die Eisenhüttenstädter. Der Graben zwischen den Stadtkindern, für die sich mit dem Schulwechsel nicht viel verändert hatte und den anderen, für die etwas Neues begann, schloss sich nie. Wir hielten Abstand, freundeten uns nur mit Einzelnen an.
    Eine von ihnen war Conny. Conny sah mit 14 aus wie zehn, sie war klein, mit einem schmalen, langen Gesicht, aber sie schien so viel erwachsener als ich. Conny nahm mich mit ins Trockendock , einen Jugendklub am Kanal. Es war eine düstere Garage, die Musik war überraschend fortschrittlich und elek-
tronisch, Anne Clark und solche Sachen. Es gab Gruftis da, die ihre Augen schwarz geschminkt hatten und schwarze lange Kutten trugen. Sie tanzten, drei Schritte vor, drei Schritte zurück. Das war gewöhnungsbedürftig, so etwas hatte ich noch nicht gesehen.
    Noch etwas unterschied Conny und mich. Ich interessierte mich nicht für Politik. Ich nahm die Unzulänglichkeiten des Staates hin wie Naturkatastrophen, die man nicht ändern konnte.
    Ich hielt mich pflichtbewusst an die Regeln.
    Conny liebte die DDR , verteidigte sie gegenüber westdeutschen Verwandten, aber wenn ihr etwas nicht passte, dann schluckte sie das nicht herunter. »Man muss aufstehen und sagen, was falsch ist an dieser Welt«, schrieb sie als ihr Lebensmotto in das Steckbriefheft. Es waren nicht nur leere Worte. Manchmal, wenn ihr ein größerer Schüler widersprach, kletterte sie auf einen Tisch und stritt weiter. Ich hörte ihr bewundernd zu. Sie konnte gut diskutieren. Während ich noch überlegte, Argumente hin und her wog und zu keinem Schluss kam, hatte sie schon eine Meinung. Sie war die Kleinste und die Mutigste in der Klasse. Bei ihr zu Hause diskutierten sie auch dauernd. Das kannte ich nicht.
    Meine Eltern waren vorsichtiger. Alles wurde verklausuliert und flüsternd in Andeutungen verpackt. Manchmal verstummten sie plötzlich, wenn ich den Raum betrat.
    Einmal hatte es im Dorf Ärger gegeben, weil mein Vater aus der Gewerkschaft ausgetreten war. Die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft war

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