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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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darauf verlassen können, dass ihre Autorität nicht in Frage gestellt würde. Doch genau das passierte. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Ich hielt die Anspannung kaum aus. Es war ein Duell, das denen, die ich in den Romanen Karl Mays gelesen hatte, in nichts nachstand.
    Weinlein war der Cowboy, Conny war Winnetou. Ich sah gebannt zu. Winnetou nahm den Cowboy ins Visier. Winnetou griff nach seinem Tomahawk und schleuderte ihn heraus. Conny hatte die besseren Argumente, sie redete immer weiter. Weinlein guckte ängstlich. Ein Cowboy hätte jetzt seinen Revolver gezogen. Weinlein hatte keinen Revolver.
    Stefan Heym hatte auf dem Alexanderplatz gesagt, ein Fenster sei aufgestoßen worden. Unsere Fenster waren zu, und trotzdem schien eine frische Brise durch den Raum zu wehen. Ich bekam eine Gänsehaut.
    Weinlein schwieg. Es sprach nur noch die Angst in seinen Augen. Der Cowboy hatte seine Waffe verloren und er wusste es. Er schluckte, kämpfte mit den Tränen. Schließlich stürmte er aus der Klasse. Es war still im Klassenraum. Wir schlugen unsere Hefte zu.

Jenseits von Eden
    Das Besondere am 10. November, dem ersten Tag in Freiheit für die DDR -Bürger, war seine Unscheinbarkeit. Der Rest des Schultages verging unauffällig, nur das Bild vom weinenden Staatsbürgerlehrer würde in meinem Kopf haften bleiben. Am Abend ging ich in den Fernsehraum, um die Nachrichten zu sehen. Ich sah die jubelnden Erwachsenen, die meine Eltern hätten sein können, die sich aber viel ausgelassener und fröhlicher benahmen, als das bei Erwachsenen normalerweise der Fall war. Es war wie ein Rausch. Man hätte schon ahnen können, dass das nicht anhält und dass danach der Kater kommen muss. Ich schaute den tanzenden Menschen zu, ich fand das alles etwas seltsam. Die große Euphorie, sie sah von Eisenhüttenstadt betrachtet etwas irre aus.
    Als ich klein war, sind wir öfter zum Einkaufen nach Ost-berlin gefahren. Als ich neun oder zehn war, nahmen mich meine Eltern mit auf den Fernsehturm. Ich fuhr im Fahrstuhl die vielen Stockwerke hinauf. Oben stieg ich aus, ich traute mich kaum zu atmen, aus Angst, ich würde sofort hinunterfallen, obwohl mich vom Abgrund doch eine Kugel aus Stahl und Glas trennte. Nach einer Weile gewöhnte ich mich an die Höhe. Jemand sagte, guck mal, das ist der Westen. Ich war überrascht, dass dieser Westen, aus dem die Weihnachtspakete und Milka-Schokoladen kamen, so nah sein sollte, dass man ihn sehen konnte, ich hatte immer gedacht, es sei ein fernes Land, in das man viele, viele Stunden reisen musste. Dann schaute ich hinunter. Ich heftete meinen Blick angestrengt nach unten, ich fasste die Straßen ins Auge, aber ich sah nichts, fand nichts Besonderes. Von oben sah Westberlin genauso aus wie Ostberlin. Es war vielleicht gar nicht wirklich Westen, sondern nur so ein Überbleibsel, das irgendwann, wenn Unterdrückung und Ausbeutung verschwunden waren, auch vergehen würde.
    Ich finde ein altes Schulheft. Papier war in der DDR knapp, das sieht man dem Heft noch viele Jahre später an, das Papier ist dünn und inzwischen gelb wie Zeitungspapier. Die Linien sind kaum mehr zu sehen. »Jenseits der Mauer – jenseits von Eden«, so überschrieb ich meine ersten Eindrücke von West-berlin im November 1989 in meinem Tagebuch. Ich lese und stutze. Ich weiß nicht, wie ich auf diese Überschrift gekommen bin. Ist das nicht ein Schlager von Drafi Deutscher, »Jenseits von Eden«? Was soll das überhaupt sein, Eden? Es klingt pathetisch, kitschig, ich fand das witzig, vielleicht dachte ich, ein Zitat des großen Volkssängers Drafi Deutscher wäre dem Ernst der Lage angemessen.
    Am 12. November fuhren wir nach Westberlin, meine Oma, meine Schwester und meine Eltern. Wir quetschten uns zu fünft in den Dacia und fuhren über den Grenzübergang Dreilinden nach Berlin-Zehlendorf. Ich saß im Auto und beobachtete die Erwachsenen. Meine Mutter redete viel, um die Aufregung zu vertreiben. Meine Oma, die mit uns hinten saß, murrte: »Dass sie uns ja auch wieder rauslassen.« Mein Vater starrte auf die Straße, um seine Nervosität zu verber-
gen.
    Die Grenzer machten sich nicht mal die Mühe, unsere Ausweise zu kontrollieren, sie winkten uns und die anderen Ostler durch – und plötzlich waren wir im goldenen Westen. Es war fast zu einfach gewesen. Ein Soldat hätte wenigstens bedrohlich mit der Waffe schwenken können.
    Wir besuchten im Stadtteil Zehlendorf ein kinderloses Ehepaar, das uns regelmäßig Pakete zu

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