Eisenkinder
Interesse. Nancy schaltete das Radio aus. Ich lag noch eine Weile wach und dachte an zu Hause. Die Schulwoche dauerte noch sechs Tage, am Samstagnachmittag würde mich mein Vater abholen. Meine Mutter dachte sich immer etwas Besonderes aus, wenn ich nach Hause kam, um mich zu überraschen. Vielleicht würde sie sogar Mohnkuchen backen, meinen Lieblingskuchen.
An dem Abend, der als der Moment in die Weltgeschichte eingehen sollte, an dem wir Ostdeutschen die Freiheit erlangten, an dem Abend lag ich im Bett in Eisenhüttenstadt. Während in Berlin die Menschen zu Tausenden auf die Straßen rannten, Volkspolizisten umarmten und immer wieder »Wahnsinn!« schrien, dachte ich an den Mohnkuchen meiner Mutter.
Der Freitag, der 10. November, begann wie immer. Um sechs klingelte der Wecker, wir standen auf, wuschen uns, danach gingen wir in die Schule. In der Schulküche wurde für die Internatsschüler Frühstück gemacht. Auf einem Tresen lag geschnittenes Mischbrot, Margarine, Käse, Wurst, Vierfruchtmarmelade. Auf den Tischen standen große Kübel Hagebuttentee. Beim Frühstück erzählte eine andere Schülerin aus Ostberlin, dass ihre Eltern sie am Morgen angerufen hatten. Die Berliner Mauer sei offen, jeder könne rüber. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte das sofort begriffen, hätte meine Teetasse fallen lassen und wäre nach Berlin gefahren, um auf der geöffneten Mauer zu tanzen. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber ich glaubte ihr kein Wort. Ich bin mit der Mauer aufgewachsen, sie war immer da gewesen. Ich konnte mir eine Welt ohne Mauer nicht vorstellen. Immerhin nahm ich mir vor, am Abend zur Tagesschau-Zeit in den Fernsehraum zu gehen.
Am Wochenende hatte es eine sehr große Demonstration auf dem Alexanderplatz gegeben. Ich hatte das im Fernsehen verfolgt. Dort redeten nicht die üblichen Wachsfiguren aus dem Politbüro, sondern Künstler, von denen ich schon gehört hatte, die Schriftsteller Stefan Heym, Christa Wolf, Christoph Hein, die Schauspielerin Steffi Spira. Ich erinnere mich an einen Satz, den Stefan Heym gesagt hatte. Am heutigen Tag sei ein Fenster aufgestoßen worden. Ein Fenster. Welches Fenster? Ich hatte vor dem Fernseher gesessen und nicht alles verstanden. Trotzdem merkte ich, dass sich etwas bewegte.
Freitags stand Staatsbürgerkunde auf dem Stundenplan. Der Lehrer, Herr Weinlein, ackerte und drillte uns, er paukte Statistiken ein, fragte die Jahreszahlen der Parteitage der SED ab und das Wirken der sozialistischen und kapitalistischen Produktivkräfte.
Auch an jenem 10. November 1989 wollte Weinlein seinen Unterricht durchziehen, als wäre nichts gewesen. Er war dünn, trug Brille und sächselte. Die schlimmsten Lehrer sächselten immer.
Ich saß seinen Unterricht meistens ab, ich schaute aus dem Fenster und verbrachte die Stunde wie in Trance. Ich lernte gerade genug, damit es für eine Eins reichte.
Jemand meldete sich. Das folgende Gespräch gab einen Vorgeschmack darauf, wie sich die Machtverhältnisse zwischen Lehrern und Schülern umkehren würden. Es war, natürlich, Conny. Sie fragte den Lehrer, ob er nicht etwas zu den aktuellen Ereignissen sagen wolle. Ihr Ton klang herausfordernd, provokant. Herrn Weinleins Blick flackerte. Er wich aus. Conny ließ nicht locker. Ich staunte. Ich hätte mich das nie getraut.
Ich hatte bei meiner Jugendweihe-Rede Erich Kästner zitiert. Ein Mensch muss Kind bleiben, um erwachsen zu werden. Danach hatte es Ärger wegen Kästner mit der FDJ -Leitung gegeben. Das hatte gereicht, um mich zum Verstummen zu bringen.
Der Unterricht ging immer noch nicht los. Der Staatsbürgerkundelehrer berief sich auf den Lehrplan, den er einzuhalten habe. Die aktuellen Ereignisse kämen darin leider, leider nicht vor. Er könne da auch nichts machen.
Ich wartete darauf, wie Conny reagieren würde. Ich sah sie an, sie hatte ihren starren Blick. Ich kannte ihn, er verriet ihre Wut. Sie stammelte. Was jetzt kam, hatte sie sich nicht überlegt, es kam spontan.
Aber Honeckers Rücktritt. Aber die Demonstration auf dem Alexanderplatz.
Sie blickte den Lehrer herausfordernd an. Ich sagte nichts, niemand sagte etwas, niemand bewegte sich. Es war unheimlich still. Ich wartete darauf, dass Weinlein anfangen würde zu brüllen, zu schreien. Er musste etwas tun, wenn er nicht als Unterlegener aus diesem Gefecht hervorgehen wollte.
Alle fixierten den Lehrer. Was sich hier vollzog, war außergewöhnlich. Selbst die unbeliebtesten Lehrer hatten sich bisher
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