Eisenkinder
Weihnachten geschickt hatte. Sie waren nicht verwandt, sondern auf verschlungenen Wegen mit meiner Mutter bekannt. Er war pensionierter Architekt, sie Hausfrau. Das Haus des Architekten lag in der Nähe eines Friedhofs, ringsherum standen Koniferen. Man war in der Stadt und trotzdem fühlte man sich sehr ländlich.
Eine kleine graue Frau öffnete die Tür und begrüßte uns so salopp, als würden wir jeden Sonntag zum Kaffee kommen. Wir betraten das Haus, ich schaute mich neugierig um. Aber die Fenster waren verhängt, ich konnte kaum etwas erkennen. Wir wurden ins Wohnzimmer gebeten, das sehr düster wirkte, mit dunklen, schweren Möbeln, die Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt.
Die Frau des Architekten stellte uns Getränke hin, Sherry für die Erwachsenen, Saft für mich und einen Teller Butterkekse. Das fand sie offenbar der Situation angemessen. Die Ostler sollten nicht denken, dass es im Westen besonders üppig zugehe, dass es gar etwas zu holen gebe.
Es wirkte, als hätte die Frau des Architekten von dem Sherry selbst schon ein paar Gläschen getrunken. Sie fragte nun schon zum dritten Mal, wie die Fahrt war. Ich hatte den Eindruck, dem Architekten und seiner Frau war unser Besuch ein wenig unangenehm. Ich mochte auch den devoten Ton nicht, den meine Mutter gegenüber den Westlern anschlug. In langen Briefen bedankte sie sich für die Pakete, erwähnte jede Schokolade, jede Packung Tortenguss einzeln. Zu Weihnachten schickte sie selbstgebackenen Stollen und Plätzchen.
Man hätte schon wissen können, dass es mit der inneren Einheit nicht so einfach wird, das Verhältnis von Ost und West war schon lange gestört.
Ich ärgerte mich über meine Mutter, die sich so klein machte, und ich verachtete die Westler, die sich groß machten.
Nach der Wende ließen sie uns fallen. Meine Mutter hatte gedacht, die West-Bekannten sehen uns als Freunde, dabei waren wir nur Steuerabschreibungen. Es waren künstliche Beziehungen, die sofort zerbrachen, als die Mauer fiel. Onkel Ulf aus Hamburg fuhr Anfang der neunziger Jahre lieber an den Plattensee nach Ungarn. Das sei günstiger und die Menschen seien dort dankbarer, ließ er uns per Ansichtskarte wissen. Man könnte sagen, er arbeitete strategisch weiter an der europäischen Einigung.
Der Architekt und seine Frau in Berlin-Zehlendorf entdeckten an jenem historischen Sonntag sofort die Vorteile des Mauerfalls für sich: Einen Gärtner und eine Haushälterin hatten sie schon. Aber der Gärtner könne leider kein Vogelhaus zimmern, das sie sich so wünschten. Ob mein Vater wohl? Er sei doch handwerklich so begabt. Da die Grenzen offen waren, könnte er den Transport auch gleich übernehmen.
Mein Vater war kaum eine Stunde im Westen und hatte gleich seinen ersten Arbeitsauftrag. Und die Westler sparten sich praktischerweise einen Handwerker. Der Mauerfall hatte sich schon gelohnt. Sie spielten weiter die Überlegenen. Und mein Vater sagte nicht nein, natürlich nicht.
Das meistgesprochene Wort eines Ostlers zu einem Westler lautete: ja.
Ich fühlte mich beengt in dem Wohnzimmer. Die Frau des Architekten gab uns noch ein paar Tipps, wir sollten nicht gleich unser Begrüßungsgeld auf einen Schlag ausgeben. Sie empfahl uns, morgens in die Zeitung nach Sonderangeboten zu schauen. Das mache sie seit Jahren so. Jetzt verstand ich, warum sie eine Haushälterin brauchte. Als wir nach einer Stunde gingen, waren alle froh. Ich sah den Architekten und seine Frau nie wieder.
Wir fuhren zum Ku’damm, den wir aus dem Fernsehen kannten. Alles wirkte seltsam vertraut und gewöhnlich, ich fühlte mich an die Fernsehserie »Drei Damen vom Grill« erinnert. Mit dem Westen, von dem ich träumte, den ich von Dickens und Maupassant kannte, hatte Westberlin nichts zu tun. Ich hatte mir alles etwas prächtiger vorgestellt.
Wir holten die Hundertmarkscheine von der Bank und setzten sie sofort um. Ich gab das ganze Geld allen Warnungen zum Trotz auf einen Schlag aus. Das war, glaube ich, das einzige Mal, dass ich eine Art Euphorie über den Mauerfall fühlte, als ich in einem vollgestopften Laden im Europacenter eine lilafarbene Jeansjacke von Levis für 99 DM kaufte. Gleichzeitig fühlte ich mich schmutzig, es war mir peinlich, dass ich mich wie die anderen Ostler an Waren berauschte.
Am Abend schrieb ich in mein Tagebuch:
Es war erschreckend, erdrückend, enttäuschend. Der große Jubel über die große Freiheit blieb aus. Etwas anderes hatte ich mir unter dem Westteil Berlins
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