Eisenkinder
vorgestellt. Eine Weltstadt! Ein Witz. Ich dachte, dort ist alles ganz anders als bei uns, schön und gut. Es sieht wirklich überall aus wie bei »Drei Damen vom Grill«. Nur die Architektur ist abwechslungsreicher. Aber wer weiß, wie hoch die Miete ist. In manchen Teilen Berlins fühlt man sich wie in einem Dorf, wenn nicht die großen Kaufhäuser wären. Dort kann man alles kaufen von der Zahnbürste bis zum Blumentopf. Und in jedem Warenhaus sind die Preise anders. Man kann den ganzen Tag suchen, um das Billigste zu finden.
Die Straßenverhältnisse sind mit unseren nicht zu vergleichen. Ein Trabbi kommt sich neben einem Mercedes verlacht vor. Genauso wie ein kleiner Trabbi fühle ich mich, wenn ich in der Commerzbank nach Begrüßungsgeld anstehe. Verlacht! Wenn ich meine Landsleute ansehe, schäme ich mich, das sind also die Produkte des Sozialismus. Wie die verhungerten Raubtiere, wie Bettler stürzen sie sich auf die Produkte des Westens, sogar auf Zeitungen und Taschentücher. Auch die Pornokinos sind voll besetzt.
Ich lese heute die Tagebuch-Auszüge, ich verstehe selbst nicht mehr, auf wen ich so wütend war. Auf die Raubtiere? Auf mich selbst?
Wenn ich alte Fernsehbilder aus der Zeit nach der Maueröffnung sehe, wirken die Menschen immer so euphorisch, gelöst, freudig. War es nicht die beste Zeit, um in der Pubertät zu sein? Mitten im Aufbruch? Waren die Jüngeren nicht die Gewinner der Wende?
Meine Aufzeichnungen scheinen nicht dazu zu passen. Ich spürte keine Freude, keine Aufbruchsstimmung. Die DDR , das Experiment, war nicht zu Ende gegangen. Es war abgebrochen worden. In meinem Kopf kreisten damals die Gedanken, wie es hätte sein können. Ein anderer, ein besserer Sozialismus.
Ich finde in meinen Tagebüchern ein nicht zu Ende geschriebenes Theaterstück, in dem ich das Verhältnis zwischen Ostlern und Westlern aufgreife, es geht um Unterlegenheit, um Siegerposen. Es spielt in Zürich, an einem fiktiven Hotel namens La Grande Belle . Als handelnde Personen tauchten ein Ostler namens Schulze, ein Schweizer Portier sowie der Russe Iwan Orgarowitsch und die Amerikanerin Gloria Glamour auf. Ich spiele das Ende des Kalten Krieges als Parodie durch. Alle machen sich über den Ostler Schulze lustig, sie verspotten ihn, weil sie glauben, dass er sich verlaufen hat, dass er nicht dort hinpasst, in diese glamouröse Welt des La Grande Belle . Der Schweizer Portier zieht ihn wegen seines Akzents auf, die Amerikanerin fragt, ob er hungrig sei und steckt ihm einen Zehn-Dollar-Schein zu, damit er etwas zu essen kaufen kann. Am Ende holt Schulze einen Packen Geld hervor und zahlt das Zimmer im Luxushotel in bar.
Ich schrieb weiter. Meine Geschichten spielten in Paris, in Chicago, an fernen Orten, die Heldinnen heißen Victoria, Antonia, Jane. So hieß niemand in der DDR . Die Veränderungen, die im Lande vor sich gehen, Volkskammerwahl, Währungsunion, Zwei plus vier, erwähne ich nicht. Sie sind für mich Nebensachen.
Die DDR verschwand, nur in Eisenhüttenstadt lebte sie weiter. Es schien, als habe der Mauerfall für unser Leben keine Bedeutung. Die Internatsleiterin lief immer noch im Kostüm herum und sprach von »ihrem« Internat, »ihren« Schülern, »ihren« Zimmern.
In der Kaufhalle stand plötzlich Zott-Joghurt und auf der Straße fuhren zwischen Trabis und Wartburgs auch alte VW und Fords. Der Neue Tag – die sozialistische Tageszeitung – wurde von einem Tag zum andern zur Märkischen Oderzeitung – überparteilich, unabhängig, überregional – und kostete immer noch fünfzehn Pfennig. Die ersten Westler, die nach Eisenhüttenstadt kamen, waren Versicherungsvertreter und Mormonen. Sonst kam niemand. Am Straßenrand standen reihenweise ausrangierte Schrankwände. Die Menschen dachten, wenn sie ihre Möbel rauswarfen, räumten sie die Vergangenheit gleich mit aus.
Einmal wurde ich im neuen Penny-Markt in der Kreisstadt vom Ladendetektiv aufgegriffen. Er war sich sicher, dass ich eine Schachtel Zigaretten in meine Tasche gesteckt hatte. Ich weigerte mich, mit ihm mitzugehen, ich beteuerte meine Unschuld. Ich rauchte nicht. Er sagte, er müsse die Polizei rufen. So lange müsste ich warten. Im Übrigen glaubte er mir kein Wort, er vermutete, ich würde mit einem Freund operieren, der wahrscheinlich schon über alle Berge sei. Ich saß in der Ecke in ihrem Ladenbüro, ich trug eine abgewetzte Lederjacke, abgelaufene Schuhe und eine große Reisetasche. Wahrscheinlich stellten sich die
Weitere Kostenlose Bücher