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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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ihre Macht schwand. In den letzten zwei Jahren vor der Wende stellten mehrere Kollegen Besuchsanträge. Davon durfte außerhalb des Kollegiums niemand erfahren. Drinnen und draußen, die Unterscheidung galt auch hier.
    Auch unsere Lehrer, ihren Worten nach stramme Kommunisten, spielten ihre Rollen im Indianerspiel. Sie sprachen die Texte, die ihnen das Drehbuch vorgab, schimpften auf den Klassenfeind und verboten Westfernsehen. Und spürten doch den Widersinn des Spiels am eigenen Leib. Die einen schienen sich aufzuteilen, spielten professionell ihre Rolle weiter und reisten privat und heimlich in den Westen, grandiose Schauspieler auf der Schulbühne, die ein Doppelleben führten.
    Anderen gelang das Doppelspiel nicht, sie ließen auch uns gegenüber Kritik durchblicken, eckten damit bei der Schulleitung an und rieben sich, unbemerkt von uns Schülern, an den Konflikten auf, bis sie daran zu zerbrechen drohten. Wieder andere versuchten das Spiel mit letzter Konsequenz durchzuhalten bis zum Schluss, sie sprachen und glaubten die leeren Parolen noch, als die Kulissen um sie herum mit dem Staat in sich zusammenbrachen. Meine Klassenlehrerin, Frau Wilke, war so eine, sie nannte Erich Honecker in einer Elternversammlung im Herbst 1989 sogar noch »den Landesvater«. Tausende flüchteten über Ungarn aus der DDR, und meine
Klassenlehrerin kommentierte das mit den Worten: »Warum sagt der Landesvater denn nichts?« So rief sie über die Köpfe der verdutzten Eltern. So erzählt es meine Mutter. Frau Wilke kann sich daran nicht mehr erinnern. Selbstschutz der Psyche, vielleicht.
    Landesvater, das bedeutete Volkstümlichkeit, Nähe, Wärme. Nichts davon erzeugte Honecker. Honecker war ein Apparatschik, eine Witzfigur. Niemand, der sich nicht absolut lächerlich machen wollte, nannte ihn Landesvater. Wenn man heute von Honecker als Diktator spricht, kann ich das nicht mit dem Bild zusammenbringen, das ich damals von dem Mann hatte, der in jedem Klassenzimmer hing. Er schien so gefährlich wie ein Opa, der sein Gebiss vergessen hatte.
    Wie er beim 40. Geburtstag der Republik auf der Bühne stand und winkte, als würde er wirklich glauben, die Menschen würden ihm zuwinken, sah er aus wie ein Mann, der aus der Zeit gefallen war. Die Menschen hatten »Gorbi, Gorbi« gerufen. Sie winkten Michail Gorbatschow zu.
    Auch das Internatsleben war nach den Regeln der Planwirtschaft organisiert. Selbst das Putzen wurde generalstabsmäßig angegangen. Wir lernten früh, dass man seinen Dreck selbst wegräumen muss. In jeder Wohngemeinschaft hing ein Zettel, der regelte, wer wann Bad, Flur und Küche sauber machte. Am beliebtesten war der Flur, der war klein.
    Am Ende des Putztages ging die Erzieherin Frau Schinke mit einem Komitee von zwei Schülern durch die Räume. Ihre Inspektionen waren gefürchtet. Sie vergab Punkte, drei, zwei, einen oder null. Am Ende des Jahres bekam das Putzkollektiv mit den meisten Punkten eine Schachtel Konfekt. Die Jungs- WG bewertete sie stets besser. Die Jungs mussten nur ordentlich Staub saugen, schon bekamen sie drei Punkte. Donnerstag war Putztag. Der 9. November 1989 war ein Donnerstag.
    Ich putzte nicht gern, mochte die Donnerstage aber trotzdem, denn sie vergingen schneller als andere Schultage. Erschöpft vom Wischen lagen wir an jenem Donnerstag zeitig im Bett, hörten Musik und redeten über unsere Pläne fürs Wochenende. Wir ahnten nicht, dass uns das wahrscheinlich aufregendste Wochenende unseres Lebens bevorstand. Die großen Ereignisse kündigten sich nur vorsichtig an. Wir hörten Rias 2 aus Westberlin, unseren Lieblingssender. Nancy lag neben dem Recorder, jederzeit bereit, den Sender umzuschalten, falls die Erzieherin sich nähern würde.
    Aber die Vorbereitung war unnötig, Frau Schinke kam an jenem Abend nicht. Die Putzkontrolle und auch die Lichtkontrolle um 22 Uhr fielen aus. Frau Schinke war sehr genau und pünktlich, sie hatte noch nie die Kontrollen ausfallen lassen, es hätte uns ein Zeichen sein können, dass es sich um eine besondere Nacht handelte.
    Am Abend des 9. Novembers klang Rias 2 anders als sonst. Der Sender hatte kurz nach acht sein Programm kurzfristig geändert. Es lief keine Musik, es wurde nur geredet. Immer wieder war die Rede von einem »Reisegesetz«. Ich verstand nicht, was gemeint war. Wir unterhielten uns beiläufig darüber, was es bedeuten und ob es etwas mit den Flüchtlingen in Ungarn zu tun haben könnte. Wir hatten keine Ahnung und auch kein echtes

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