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Eisenkinder

Eisenkinder

Titel: Eisenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Rennefanz
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er sich vom Nachbarn aus dem Dorf geliehen hatte. Als er aus dem Auto stieg, trug er einen blauen Arbeitsanzug und einen Werkzeugkasten.
    Mein Vater und ich packten die Kisten, auch die Jesus-Kiste, in den Wagen und fuhren nach Berlin. Auf der Fahrt schaute ich aus dem Fenster, und je näher wir Berlin kamen, je dichter die Kiefernwälder wurden, je mehr die Häuser dem Haus ähnelten, in dem ich aufgewachsen bin, je mehr Autos mit Dreibuchstaben-Kennzeichen ich sah, desto froher wurde ich. Vielleicht gab es Schlimmeres als einen Vater, der sich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hangelte. Vielleicht stimmte es gar nicht, dass meine Heimat verschwunden war. Vielleicht hatte ich mich nur abgewandt. Ich war verschwunden gewesen.
    Ich dachte daran, wie ich versucht hatte, jemand anders zu werden. Ich dachte an die Studentin, die mich gefragt hatte, ob meine Eltern bei der Stasi waren, ich sah mich im weißen, nassen Gewand im Taufbecken, ich sah mich, wie ich auf dem Campus in Hamburg Bibeln verteilte, ich sah mich, wie ich in Russland bei Irina im Wohnzimmer saß und ihre Oma gefragt hatte: Ost oder West? Ich dachte, wahrscheinlich wird mir diese Frage noch sehr oft gestellt werden. Ich dachte an Alexander, auf den ich noch wütend war. Aber ich war mir ganz sicher, dass ich mich wieder verlieben würde. Das Leben war kein Roman. Es endete nicht mit einer Trennung.
    Ich hatte bereits von Hamburg aus eine neue Wohnung in Prenzlauer Berg gefunden. Ich würde sie mir mit einer Studienfreundin aus Hamburg teilen. Die Kisten mit dem Jesus-Material stellte ich in den Keller und fasste sie nicht mehr an. Ich sah meine Eltern nun regelmäßiger, und ich erzählte ihnen von dem, was ich in Berlin erlebte. Wenn ich sie am Wochenende besuchte, betete ich nicht mehr vor dem Essen, ich ließ auch nicht Jesus in das Gespräch einfließen. Als hätte es die Freikirche nie gegeben. Es gab keine große Aussprache, aber ich spürte, dass meine Eltern erleichtert waren. Irgendwann sagte mein Vater, dass er sich Sorgen gemacht hatte, als ich mit der Bibel unter dem Arm herumlief. »Das Religiöse war für mich etwas vollkommen Fremdes. Aber was sollte ich machen, du warst ja erwachsen.«
    Es war das Jahr 1999, zehn Jahre waren nach der Wende vergangen. Fünfzehn Jahre hatte ich hinter einer steinernen Mauer verbracht, fünf weitere Jahre hinter einer gedachten. Ich war jetzt 25, bald würde ein neues Jahrtausend beginnen. Es war Zeit für eine neue Wende.
    Am 15. Februar 2001, einem Donnerstag, hatte ich meinen ersten Arbeitstag in der Redaktion der Berliner Zeitung . Vor vielen Jahren war die Redaktion der Berliner Zeitung die Patenbrigade der Schule meines Dorfes gewesen, der bekannte, umstrittene DDR -Reporter Karl-Heinz Gerstner war regelmäßig zu Veranstaltungen gekommen. 2001 galt die Redaktion der Berliner Zeitung als einzigartiges »Ost-West-Labor«, das heißt, es gab ungefähr ebenso viele ostdeutsche wie westdeutsche Redakteure, die sich täglich in der großen Konferenz Redeschlachten lieferten. Ich ging in das Hochhaus am Alexanderplatz, ein Monument der DDR -Architektur, und fuhr in den 12. Stock an meinen neuen Arbeitsplatz, ein mit Zeitungen und Videofilmen vollgestopftes Büro am Ende eines langen Ganges.
    Mein Büro teilte ich mir mit zwei Kollegen, einer kam aus Pankow, der andere aus Bonn. In der Ecke stand ein Extra-Rechner, wir nannten ihn Multimedia-Computer, und darauf war ein Musik-Sharing-Programm namens Napster installiert. Über Ost und West redeten wir erst mal nicht.

Epilog
    Als ich diese Zeilen schreibe, ist beinahe ein Jahr vergangen, seitdem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnwagen in Eisenach entdeckt wurden. Was ist seitdem passiert?
    Ein Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz trat zurück. Vier Untersuchungsausschüsse wurden eingerichtet.
    Eine echte Debatte, ein Nachdenken, wie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zehn Jahre unerkannt mordend und raubend durchs Land ziehen konnten, schon gar nicht darüber, was sie zu Terroristen machte, hat nicht stattgefunden.
    Es gab keine Lichterketten, keine großen Demonstrationen,
und die Bücher, die sich mit dem Thema befassten, landeten nicht auf den Bestsellerlisten. Stattdessen belegte ein Buch mit dem Titel Digitale Demenz wochenlang einen der ersten Plätze. Darin ging es darum, dass Computer und Smartphones dumm machen.
    Es gab Übersprungshandlungen:
    Eine junge Frau wurde aus der deutschen

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