Eisenkinder
und Weltbildern entlud. Es ist ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass die eigenen Erlebnisse, die man selbst kaum verarbeitet hat, historisch schon eingeordnet sind. Ich wiederhole still die Worte: metaphysische Obdachlosigkeit.
Ich begreife, dass das, was ich an mir und auch an Fällen wie bei Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe beobachtet habe, keine vereinzelten Schicksale sind, sondern Teil eines größeren Phänomens, für das es nicht nur individuelle, sondern gesellschaftliche Ursachen gibt.
Es geht nicht darum, die Taten des NSU -Trios zu verharmlosen, es geht um die Jugendlichen, die abdrifteten und Halt in einem radikalen Weltbild suchten. Nicht bei allen fand das so extrem statt, aber viele erlebten Absetzbewegungen, Erschütterungen, Ausbrüche. Bei vielen klafft bis heute ein Loch in der Biografie.
Die Historikerin Tanja Bürgel hat im Laufe ihrer Forschungen zu dieser Generation vielfältige Beispiele von ostdeutschen Kindern und Jugendlichen gefunden, die ihren Eltern nach der Wende entglitten und abdrifteten. Manche suchten Halt in den festen Strukturen der Bundeswehr, die nächsten reisten um die Welt und wandten sich von der Zivilisation ab, wieder andere richteten ihre Aggressivität gegen sich selbst und wurden magersüchtig. Auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sieht Bürgel als Teil einer »verlorenen Generation«.
Aber gibt es nicht all dies auch unter westdeutschen jungen Erwachsenen?
Ja, sagt Tanja Bürgel, aber nicht in dem Ausmaß wie im Osten, wo viele nach der Wende zum ersten Mal eine tiefe existenzielle Angst erlebten und nicht auf die Erfahrungen der Eltern zurückgreifen konnten.
Eine Befragung von 12- bis 25-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Jahr 2000 hat ergeben, dass Ostdeutsche sich im Vergleich zu gleichaltrigen Westdeutschen ungleich beladener fühlen. Sie nehmen das Leben schwerer, ärgern sich mehr über Dinge, auch im persönlichen Bereich, leiden häufiger unter negativen Gefühlen.
Als ich im Spätsommer 2012 in Jena aus dem Zug steige, sehe ich: sanierte Häuser, junge Leute auf den Straßen, gut gefüllte Cafés und Restaurants. In der Straßenbahn der Stadt hört man Englisch, Russisch und Spanisch. An der Uni lernen über zwanzigtausend Studenten, dank großer Firmen wie dem Optikbetrieb Carl Zeiss Jena liegt die Arbeitslosigkeit bei rund sechs Prozent, weit unter dem ostdeutschen Schnitt. Ich vergleiche Jena mit Eisenhüttenstadt, dem Ort meiner Jugend, und mir fällt auf, wie unterschiedlich es den Städten heute geht: Jena, 1558 gegründet, hat sich seit der Wende gut entwickelt. Eisenhüttenstadt, 1950 gegründet, stirbt seit der Wende einen langsamen Tod. Doch in den frühen neunziger Jahren waren die Lebensbedingungen noch ähnlicher.
Ich treffe Marco K., der sich einst im gleichen Freundeskreis wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bewegte. Er wuchs im gleichen Neubauviertel auf, gemeinsam mit anderen Kameraden fuhren sie zu Schulungen und Aufmärschen.
Ende der neunziger Jahre, als das NSU -Trio im Untergrund verschwand, hat K. die Szene verlassen und sich ein neues Leben aufgebaut. Er will eigentlich nicht mehr reden, weil die Geschehnisse von damals abgeschlossen seien, schreibt er in einer ersten E-Mail.
Aber dann sagt er doch zu.
K. trägt kurze Hosen, ein eng anliegendes T-Shirt mit V-Ausschnitt, um den Hals hat er ein buntes Tuch geschlungen. Nichts erinnert äußerlich an sein früheres Leben. Ich möchte wissen, wie er radikal geworden ist.
»Es war keine Entscheidung«, sagt er. Alle seien damals im Neubauviertel rechts gewesen und mit Bomberjacke herumgelaufen. »Das war eine Jugendkultur wie Hip-Hop in Berlin.« Die Jugendlichen lungerten auf der Straße herum. Ihr Viertel Jena-Lobeda veränderte sich. Viele Einheimische zogen in den Westen, in die leeren Wohnungen kamen Russlanddeutsche. »Die fuhren mit BMW herum, während unsere Eltern keine Arbeit hatten«, so nahm Marco K. das als 14-Jähriger wahr. Er hatte das Gefühl, sein Viertel verteidigen zu müssen. Heute sagt er: »Wir suchten Bauernopfer.«
Er ging 1995/96 in den Winzerclub , dort hingen auch Leute wie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt herum. Als K. dazu-
stieß, waren die Älteren bereits feste Größen in der Szene. »Das waren charismatische Leute, sie konnten gut reden, waren selbstbewusst, wir schauten zu denen auf«, erinnert er sich.
Ich will vor allem mit ihm über den Ausstieg reden, ich will wissen, was entscheidet darüber, ob jemand in der
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