Eisfieber - Roman
Sie können wieder einschlafen.«
»Mein Mann ist Arzt«, erwiderte Monica. »Wir sind daran gewöhnt, mitten in der Nacht angerufen zu werden.«
Toni legte auf. »Michael Ross hatte genug Zeit, den Tresor zu öffnen«, sagte sie. »Außerdem lebt er allein.« Sie sah Elliot an. »Haben Sie seine Mutter erreicht?«
»Es war ein Altenheim«, sagte Elliot, und man sah ihm an, dass ihm der Schreck noch in den Knochen steckte. »Mrs. Ross ist im vergangenen Winter gestorben.«
»Au, verflucht«, sagte Toni.
03.00 Uhr
Die Türme und Giebel des Kremls waren taghell erleuchtet. Aus Sicherheitsgründen wurde der gesamte Komplex nachts von starken Scheinwerfern angestrahlt. Die Außentemperatur betrug minus 5 Grad Celsius, doch der Himmel war klar und es lag kein Schnee. Dem Gebäudekomplex gegenüber breitete sich ein viktorianischer Garten mit alten Bäumen und Sträuchern aus. Ein drei viertel voller Mond warf graues Licht auf nackte Nymphen, die sich, von steinernen Drachen bewacht, in wasserlosen Brunnen tummelten.
Plötzlich erschütterte Motorengedröhn die nächtliche Stille. Zwei Lieferwagen, die mit vier durchbrochenen schwarzen Kreisen auf leuchtend gelbem Grund, dem internationalen Symbol für Biogefährdungen, gekennzeichnet waren, verließen die Garage. Die Torwache hatte die Schranke an der Einfahrt bereits geöffnet. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit rollten die beiden Fahrzeuge auf die Straße hinaus und fuhren in südlicher Richtung davon.
Den ersten Wagen steuerte Toni Gallo, und sie fuhr ihn wie ihren Porsche. Sie beanspruchte die gesamte Breite der Fahrbahn für sich, jagte den Motor auf Hochtouren und nahm die Kurven mit atemberaubender Geschwindigkeit, denn sie fürchtete, zu spät zu kommen. Bei ihr im Wagen saßen drei erfahrene Dekontaminations-Experten. Das zweite Fahrzeug war eine mobile Quarantänestation mit einem Sanitäter am Steuer und Dr. Ruth Solomons, einer Ärztin, auf dem Beifahrersitz.
Toni hatte Angst, sie könne mit ihrem Verdacht Unrecht haben. Doch die Vorstellung, sie könne Recht behalten, erweckte reinstes Entsetzen in ihr.
Auf einen bloßen Verdacht hin hatte sie Alarmstufe »Rot« ausgelöst. Dabei war es durchaus möglich, dass Howard McAlpines Vermutung stimmte: Irgendein Forscher hatte die Probe völlig legal benutzt und nur den entsprechenden Entnahmevermerk im Protokollbuch vergessen. Genauso gut war es möglich, dass Michael Ross seinen Urlaub eigenmächtig um ein paar Tage verlängert hatte und dass es sich bei der Geschichte mit seiner Mutter um ein Missverständnis handelte. In all diesen Fällen wäre Tonis Vorgehen eine maßlose Überreaktion – typisch weibliche Hysterie eben, wie James Elliot süffisant bemerken würde. Kann schon sein, dass Michael Ross friedlich schlummernd in seinem Bett liegt und sein Telefon abgestellt hat, dachte Toni und zuckte bei dem Gedanken, wie sie das am kommenden Vormittag ihrem Chef Stanley Oxenford erklären sollte, unwillkürlich zusammen.
Andererseits: Sollte sie mit ihren Befürchtungen am Ende doch Recht behalten, so wäre alles noch viel, viel schlimmer.
Ein Angestellter blieb unentschuldigt dem Arbeitsplatz fern. Er hatte falsche Angaben über sein Reiseziel gemacht, und zwei Proben des neuen Medikaments waren unauffindbar. Hatte Michael Ross etwas getan, wodurch er sich dem Risiko einer tödlichen Infektion aussetzte? Das Medikament befand sich noch in der Erprobungsphase und wirkte keineswegs gegen alle Viren – aber vielleicht dachte Michael, es sei allemal besser als gar nichts. Was immer er im Schilde führte – auf jeden Fall hatte er großen Wert darauf gelegt, dass ihn ein paar Wochen lang niemand in seinem Hause störte, und deshalb vorgegeben, er wolle nach Devon fahren, um dort eine Mutter zu besuchen, die schon lange tot war.
»Bloß deshalb, weil jemand allein lebt, ist er ja noch nicht verrückt, oder?«, hatte Monica Ansari gesagt. Das war eine jener Bemerkungen, mit denen eigentlich das genaue Gegenteil des Gesagten ausgedrückt wurde. Die Biochemikerin hatte gespürt, dass mit Michael etwas nicht stimmte, auch wenn sie als rational denkende Wissenschaftlerin zögerte, sich auf intuitive Eingebungen dieser Art zu verlassen.
Toni war dagegen überzeugt, dass Intuitionen niemals ignoriert werden sollten.
Welche Folgen es haben würde, wenn das Madoba - 2 -Virus tatsächlich auf irgendeine Weise freigesetzt worden wäre, daran wagte Toni Gallo kaum zu denken. Es
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