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Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Titel: Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ansgar Warner
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Trinker am Kiosk tagein, tagaus in sich hineinschütten. Die 
einzige Buslinie, die hier noch hält, fährt in Richtung Friedhof. Allerdings 
auch zurück, übers Arbeitsamt in Richtung Bahnhof.
    Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung. Aber ich bin jetzt auch schon vierzig. Ich 
nehme täglich den Bus in Richtung Bahnhof. Zurück laufe ich – das hält 
fit. Wahrscheinlich brauche ich in Zukunft noch zusätzlich ‘ne Age- 
Control-Creme. Neulich im Zug sprach mich eine junge Frau an. Ende 
zwanzig, lockiges blondes Haar, Brille. Offenbar eine Studentin. 
”Entschuldigen Sie bitte!”, sagte sie und blickte von ihrem Buch auf. Es ist 
wohl langsam Zeit, nicht nur die Haare zu zählen, die mir ausfallen, 
sondern auch die Anzahl der Menschen unter dreißig, die mich siezen. 
”Entschuldigen Sie bitte!”, sagte die Studentin noch einmal. “Könnten Sie 
mir eventuell diesen Ausdruck erklären!?” Ich schaute in den Text, 
irgendetwas Kulturwissenschaftliches zum Thema Erinnerung und 
Identität. Ein Wort auf der Seite war mit Textmarker angestrichen. 
”Atavismus!?”, fragte ich. Sie nickte.
    “Nun, ein Atavismus ist etwas, das 
sich überlebt hat, nicht mehr in die Zeit passt …”, formulierte ich und 
wunderte mich selbst ein wenig. 
Die Studentin runzelte die Stirn: “Also so etwas wie anachronistisch, 
altmodisch, nicht mehr up to date?” “Exakt!”, entgegnete ich und blickte 
aus dem Fenster. So kann man’s auch sagen.

Und ab!
    Eine kleine Fußgängerbrücke überquert das Niemandsland zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, dort, wo sich verschiedene S-Bahnlinien zum so genannten “Nordkreuz” verknäueln. In Richtung Süden sieht man bei gutem Wetter den Fernsehturm, bei schlechtem Wetter den Turm der Zionskirche. Ein unangenehmer Duft weht auch an diesem Wochenende vom Fuhrpark des BSR-Hofes am Rande des Brachgeländes herüber. Doch die Spaziergänger auf der Brücke stört das nur wenig. Schnaufend stoßen Jogger ihre Atemwolken in die feuchte Nachmittagsluft. Kleine Kinder und kurzbeinige Mischlingshunde taumeln vorüber.
    Mein Blick schweift über den dunklen Klotz des Flakbunkers am Humboldthain, wo gerade ein Vogelschwarm auffliegt. Dann erst sehe ich die Frau am Geländer. Sie hat eine hellblaue Cordlatzhose an und einen bunten Strickpullover. Ihre grell gefärbten Haare bewegen sich im Wind. Neben ihr lehnt ein klappriges Damenfahrrad. Sie dreht sich und reckt sich und lehnt sich lasziv-bedrohlich über das Geländer. Dann steht sie regunglos da. Wird sie springen? Etwas weiter die Brücke hinunter stehen drei Männer wie in Trance auf dem Asphalt und starren in ihre Richtung.
    “Und ab!”, ruft plötzlich einer. Die Frau beginnt wieder am Geländer zu turnen. Erst jetzt sehe ich die schwarze Mündung der kleinen Videokamera. Auch das noch! Mit möglichst unauffälliger Miene durchquere ich das Bild, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. Noch ein paar Meter … geschafft! Als ich gerade den Aufnahmetrupp passiert habe, läuft einer der Männer auf mich zu. Er klopft mir auf die Schulter. Ich sehe ihn fragend an. Er flüstert: “Vielen Dank, das haben Sie wirklich hervorragend gemacht, einfach großartig!”

Don't pay the ferryman
    Noch so ein Tag, wie geschaffen für schwermütige Charaktere. In der Stabi waren alle brauchbaren Bücher ausgeliehen und x-mal vorbestellt, nicht mal mehr eine einzige Ausgabe von Robert Burtons “Anatomy of Melancholy” im Magazin. Dann eben nicht. Also erst mal am nächsten Kiosk eine Tüte Weingummi besorgt. Und schnurstracks mit der U-Bahn zurück in Richtung nördlicher Prenzlauer Berg.
    Am Alex stieg ich noch mal aus, um bei Saturn eine CD zu kaufen, irgendwas gegen den Blues. Auf der Rolltreppenfahrt in das Untergeschoss dröhnte aus den Lautsprechern Chris de Burgh. “Don’t pay the ferryman, don’t even fix a price, don’t pay the ferryman, until he gets you to the other side!” Auch das noch. Leicht abgelenkt versuchte ich den Weingummi-Euro, der sich unter meiner Zunge festgesaugt hatte, wieder loszubekommen. Am Fuß der Rolltreppe wäre ich dabei fast in eine Wand aus Videomonitoren gestolpert, die jetzt in Zeitlupe mein ungelenkes Ausweichmanöver zeigten. In der CD-Abteilung stieß ich am Klassikregal mit jemandem zusammen. Wir blickten uns überrascht an.
    Es war mein ehemaliger Klassenkamerad R., von dem ich seit den späten Achtzigerjahren kein Sterbenswörtchen mehr gehört hatte. “Oh, hm, ja,

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