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Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Titel: Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ansgar Warner
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vorwärts, als würde an der Wendeschleife nie wieder ein Bus abfahren. Um seinen Hals baumelt eine Klarsichthülle mit der Schülermonatskarte.
    Vor dem Haltestellenschild lässt er sich auf den krümeligen Betonboden plumpsen. Umständlich zieht er sich die Schuhe an und macht die Schnürsenkel mit Doppelknoten zu. Dann steigt er ein und setzt sich ganz nach vorne auf einen der Schwerbehinderten-Plätze. Seine Freundin schickt er weiter nach hinten. Als sie den halben Bus durchquert hat, ruft er, ohne sich umzudrehen: “Na, kann man’s noch sehen?” – “Ja!” Dann rennt sie ganz nach hinten. “Kann man’s immer noch sehen?” – “Ja-aah!” Der pummelige Junge hat sich in den Haaransatz am Hinterkopf eine Faust mit Stinkefinger rasieren lassen. Zischend schließen sich die Türen, und in der Wendeschleife gerät der vordere Teil des Gelenkbusses kurzzeitig außer Sichtweite.

Du nicht, Rudi!
    Gerade als wir im Odeon unsere Eintrittskarten bezahlen wollen, wankt ein Mann mittleren Alters heran. Graues Jackett, Dreitagebart und ein bisschen bleich. Keuchend spricht er zur Kassiererin, er habe Atembeschwerden und Brustschmerzen, wahrscheinlich ein Herzinfarkt, man solle einen Notarzt rufen. Während die Dame hinter dem Tresen leicht genervt telefoniert, begleiten wir den Mann an die frische Luft.
    Beruhigend redet C. dort auf ihn ein, “na, das wird schon wieder, die kommen bestimmt gleich!”, und schaut mich vielsagend an. Ich weiß, was der Blick bedeuten soll: “Du warst ja als Zivi beim Malteser Hilfsdienst!” Allerdings hatte ich damals immer mein Notfall-Handbuch dabei. Kapitel Reanimation, wie ging das noch!? Fünfzehnmal Atemspende, zweimal Herzmassage, oder umgekehrt? “Mir wird schwarz vor Augen”, stammelt der Mann im grauen Jackett. “Mir auch!”, denke ich.
    Da bremst mit quietschenden Reifen der Rettungswagen. Vorne springen zwei Sanitäter heraus, aus der Seitentür der Notarzt. Die Helfer streifen sich im Laufschritt Einweghandschuhe über, der Arzt blickt auf den Mann im grauen Jackett. Plötzlich bleibt er stehen und ruft: “Rudi! Nein! Dich nehme ich heute nicht noch mal mit!” Die Sanitäter ziehen sich die Handschuhe wieder aus. “Nüschte!”, brüllt da jedoch der Mann in Grau. “Ihr MÜSST mich ja mitnehmen!” Die Sanitäter ziehen sich nach ein paar Sekunden die Handschuhe wieder an, packen zu und befördern Rudi leicht unsanft in ihren Wagen. Der Notarzt knallt beleidigt die Seitentür zu. Ohne Blaulicht verschwindet das Gefährt im nächtlichen Stadtverkehr. C. schaut auf die Uhr und meint: “Wenn wir jetzt wieder reingehen, haben wir nur die Werbung verpasst.

Déjà-Vu beim Landarzt
    Der Wecker hatte kurz vorm Wecken den Geist aufgegeben, und ich war spät dran. Sollte ich nicht gleich besser mit meiner Tasse Kaffee hier sitzen bleiben? Nach einigem Zögern verließ ich doch das Haus. Falsche Entscheidung: Fünf Minuten später war meine Jeans zerrissen, eine Schnittwunde klaffte am Unterschenkel, und ich hinkte mit meinem Rad zu Fuß die Hauptstraße zurück.
    Zu Hause klebte ich ein Heftpflaster quer über die blutigste Stelle, während meine Mitbewohnerin in den gelben Seiten nach der nächstgelegenen Arztpraxis suchte. Tatsächlich pries ein gewisser Dr. D. quasi gleich gegenüber seine Dienste an. Klingeling. Der Doktor öffnete persönlich die Tür, sonst war auch niemand da. Das Behandlungszimmer wirkte rustikal wie bei einem Landarzt, und rustikal waren auch die Smalltalk-Themen: Flurnamen im Fläming, Zunftkämpfe im Spätmittelalter, ach ja, und seltene Symptome bei Wundstarrkrampf. Währenddessen kritzelte Dr. D. Notizen auf eine DIN-A5-Karteikarte, scannte meinen Krankenkassenausweis ein und steckte sich zehn Euro Praxisgebühr in die linke Seitentasche seines Kittels. Die Wunde bekam ein neues Pflaster, und Dr. D. fragte noch: “Wie sieht’s eigentlich mit Tetanus aus!?”
    Erst auf dem Rückweg erinnerte ich mich dann, warum ich in diesem Moment ein Déjà-vu-Gefühl hatte. Ende der Achtziger gab’s im ZDF eine Folge “Der Landarzt” mit einem Gastauftritt von Björn Engholm. Der taucht als verletzter Fahrradfahrer in der TV-Praxis auf, und antwortet auf die Frage nach der Tetanus-Impfung so was Ähnliches wie: “Die hatte ich zum letzten Mal als ganz junger Juso.” War bei mir ganz ähnlich, aber seitdem habe ich nicht nur die Krankenkasse gewechselt.

Hör auf deine Tastatur
    Selbst Keyboards kommen offenbar nicht mehr ohne Warntafeln aus.

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