Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Finger in die Wunde zu legen. Im Prinzip schon, entgegnete ich mit leicht gequältem Lächeln, nur sei sie nach Friedrichshain umgezogen. Zudem habe sie sich auf Natur-Gedichte spezialisiert. “Sie hat ihre Federboa gegen eine Bernsteinkette eingetauscht”, setzte ich mit einem Stirnrunzeln hinzu, dann bestellte ich einen doppelten Wodka.
Wenige Tage später bekam ich eine auf lila Büttenpapier gedruckte Einladung zu einer “poetischen Nacht”. Ich zog das blaue Oberhemd an, von dem ich immer schlechte Laune bekomme, und machte mich auf den Weg. Wie üblich verlief ich mich zwischen Ostkreuz und Boxhagener Platz. Die Straße, in der die Poeten wohnen, ist nicht leicht zu finden. Mit klimpernder Bernsteinkette begrüßte mich meine dichtende Base und verwies mich ins “Sonnenblumenzimmer”, wo bereits die Gäste warteten. Höhepunkt des Abends war diesmal nicht Naturlyrik, sondern ein Dokumentarfilm, den ihre Schauspiellehrerin gedreht hatte. Thema: erfolglose Menschen über dreißig.
Als Beobachtungsobjekt hatte sich die Jungfilmerin meine Cousine ausgesucht. So sah ich sie nun durch den Friedrichshain schlendern, auf dem Wochenmarkt Käse kaufen, Antiquitäten verkaufen oder beim Vollbad Ferngespräche führen. Zwischendurch kommentierten kalligraphisch liebevoll gestaltete Schrifttafeln mit russischen Sprichwörter die einzelnen Szenen. Nach der Aufführung wurde ich der Dokumentarfilmerin vorgestellt. Diese zeigte sich höchst interessiert, als sie erfuhr, ich sei ein naher Verwandter. “Im Prinzip schon”, erwiderte ich so glaubhaft wie möglich, “aber ich bin noch nicht dreißig und zudem – ähm – relativ erfolgreich.”
Via Dolorosa
“Que dois-je faire?” Was soll ich tun? Irgendeine Werbeagentur bringt zurzeit so genannte Weltfragen auf die Reklametafeln. Wenn man Zahnschmerzen hat, ist die Antwort relativ klar. Auf zum Zahnarzt. Nur zu welchem? Allein an der Schönhauser Allee lauert hinter jeder zweiten Fassade ein Dentist. Die früher so beliebte Einkaufsmeile ist inzwischen zu einer Via dolorosa der Karies und der Parodontose geworden. In den Seitenstraßen tummeln sich zwischen Rotlichtbars, Kiezkneipen und siamesischen Gemüsehändlern Dutzende weiterer Diplom-Stomatologen, Sänitäts- und Medizinalräte, Zahntechniker, Kieferorthopäden und sonstiger Spezialisten.
Und in den Hinterhöfen wahrscheinlich ebenso viele arbeitslose Germanisten. Die Namen der Zahnmediziner klingen auch für Nichtphilologen sehr vielversprechend. Dr. med. Hammer. Dr. med. Wohlleben. Medizinalrat Doz. Dr. sc. Med. Höcker. Mysteriös. Dipl. Stomatologe Goldmann. Klingt teuer. Dr. med. Breitsprecher, Kieferorthopäde. Huch! Kommt aber sowieso nicht in Frage. Schließlich treibt mich der tuckernde Schmerz hinter der Backe in eine namensmäßig eher unverdächtige Praxis. Wehmütig blicke ich noch mal an die Ecke, zum Burger-King. Werde ich jemals wieder kraftvoll in einen Doppel-Whopper beißen können?
Im Wartezimmer liegt eine vom Zahn der Zeit bereits stark angenagte Illustrierte. Benommen blättere ich in den knitterbunten Seiten. Wie unbeschwert war doch das Leben vor dem 11. September. Meinem bröckelnden Zahn, erfahre ich dann im Behandlungsraum, droht ein ähnliches Schicksal wie dem WTC. Am Abend ist die Analogie dann perfekt: Im Badezimmerspiegel blinkt mir Ground Zero im eigenen Mund entgegen. Z-Easy-Zahnkredit hin oder her – der Wiederaufbau wird teuer.
Rübergemacht
Es ist immer noch nicht so ganz alltäglich, den Prenzlauer Berg in Richtung Westen zu verlassen. Rüstig rumpelt die Straßenbahn die Bornholmer Straße hinauf und über die Böse-Brücke. Kurz vorm Wedding fällt der Blick auf einen kleinen Gedenkstein direkt neben der Fahrbahn. Damals am 9. November stauten sich hier die Trabis und Wartburgs, bevor der Schlagbaum endlich hochging. Jetzt liegen zerbrochene Schnapsflaschen, Plastiktüten, verschrumpelte Kerzenstummel herum. Was wollen wir eigentlich im Westen? In diesem Fall ist die Sache klar: im Mediamarkt Pankstraße einen Flachbildschirm kaufen. Doch vorher noch schnell durch den angrenzenden Möbel-Höffner. Denn hier soll man im Restaurant “Kochmütze” günstig speisen können.
Tatsächlich: ein komplettes Zwei-Personen-Menü für umgerechnet 20 Mark West. Der Kaffee ist auch verdächtig billig. Während zwei betagte Damen am Nebentisch ihre Arztrechnungen vergleichen, schweifen unsere Blicke auf das Panorama vor der Fensterscheibe. Die famos moosige
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