Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Typen um Auskunft gebeten. Dann dachte ich mir: Vielleicht doch ‘ne eher unpassende Frage an Leute, die am Ende der Welt durchgeknallte Mattscheiben sammeln.
"Sie waren aber lange nicht hier"
“Sie waren aber lange nicht hier”, begrüßt uns der Kellner beim Italiener an der Bornholmer Straße. Gegenüber, in der “Bretterbude”, macht Sat.1 gerade Außenaufnahmen für den Film “Die zweite Chance”. Dekorateure haben die rostige Schultheiss-Reklame mit dem Schriftzug “Konditorei” überklebt. Wir sprechen über Politik, dann über Sushi-Bars. Schließlich erzählt Julia, das bei ihr zu Hause zur Zeit die Küche kalt bleibe. Die Gaswerke überprüfen gerade die Leitungen im nördlichen Prenzlauer Berg. Im Hausflur fand sich die handschriftliche Mitteilung, wegen “Undichtigkeiten in den Gasgebrauchsleitungen” sei der gesamte Hausanschluss vorübergehend außer Betrieb. In Kürze will der Vermieter allen Besitzern von Gasherden elektrische Kochplatten zur Verfügung stellen. Die Reparatur wird dauern. Der Hauswart hat vorsorglich Frau und Kinder schon einmal in den Urlaub vorausgeschickt, er selber wird morgen früh die Stadt verlassen. Wenn er wieder da ist, wird Julia ihm zurufen: “Sie waren aber lange nicht hier!”
Eisglieder am Dackelrücken
Am 11. September 2001 mußte der West-Berliner Majakowski Wache schieben. Der Tag war nebelig, die Heimat weit. Über seiner Thermojacke schaukelte ein alter Wehrmachtskarabiner, gut geölt und durchgeladen. Daneben, immer griffbereit, Funkgerät und Signalpistole. Der Horizont war kaum zu sehen, die Luft roch nach Schnee. Majakowski war etwas schwindelig. In der “Zillertal-Bar” hatte er am vorigen Abend mit den Kameraden hart gezecht. Majakowski blickte auf einen einsam herumstehenden Wegweiser: Berlin 4174 Kilometer. Da! Irgendetwas hatte sich doch da hinten bewegt. Majakowski riß den Karabiner hoch, suchte den Haltepunkt. In der Ferne wankten schemenhafte Gestalten. Majakowski entsicherte den Karabiner. Plötzlich schien der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Der verdammte Bommerlunder! Majakowski blickte angestrengt nach vorn: Da! Zwei, nein, drei Männer mit Vollbärten liefen ihm entgegen . . . Ach nee, na Gottseidank! Nur Kollegen . . .
23.Oktober 2001. Diavortrag in der Urania. Bin wohl kurz eingenickt. Majakowski, Journalist der Berliner Morgenpost, ist gerade zurück von einer Nordpolarmeer-Expedition mit dem deutschen Forschungsschiff “Polarstern”. Klick. Majakowski in der Kleiderkammer des Alfred Wegener Institutes. Klick. Majakowski im Trockendock. Klick. Majakowski im Hafen von Tromsö. Klick. Majakowski an Bord der “Polarstern”.
Klick. Ein amerikanischer Eisbrecher. Klick. Majakowski auf einer Eisscholle, Majakowski als Eisbären-Wache mit Karabiner, Majakowski am Pol. Klick. Klick. Klick. Nebenan, im Humboldt-Saal, rattert derweil ein Diavortrag über die Kanarischen Inseln seinem Höhepunkt entgegen. Majakowski dagegen setzt nun einen Overhead- Projektor in Betrieb. Eine gelbe Linie zieht sich von Skandinavien aus durch die Barentssee bis über den 89. Breitengrad. Worum geht’s? Um die Erforschung des Dackelrückens. Bitte? Nein, des Gakkel-Rückens. Ein geologisch aktives Gebirge am Grunde des Polarmeers. Die zahlreichen Vulkanologen, Meteorologen, Biologen und Petrologen an Bord der “Polarstern” hatten jedenfalls ihre Freude. Schließlich gab es ja nicht nur eine Sauna und ein Schwimmbad an Bord, sondern auch eine rustikal eingerichtete Kneipe. Das Leben in der Arktis ist hart. “Mit feuchtkalten Eisgliedern greifen die Polkappen nach Süden, von diesem Eiskirchhof der Natur gehen sie aus, die drei ärgsten Feinde des Lebens: Eis, Kälte, Winternacht. Warum fährt man in dieses Mythenland hinter den Nebelwänden? Um Tote zurückzuholen?” Gute Frage. Die “feuchtkalten Eisglieder” des Fritjof Nansen-Zitats hallen noch in meinem Kopf, als ich dem Ausgang zustrebe.
Im Urania-Foyer sitzen ein paar uralte Damen und rauchen Zigarren. Wer jetzt eine Gasetagenheizung besitzt, hat auf jeden Fall gut lachen. Draußen ist es nicht nur stockfinster, sondern auch nebelig und kalt. Auf einer Verkehrsinsel stapeln sich umgedrehte Plakatwände mit riesigen Menschenköpfen. Nur schwer erahnt man in der Ferne das grauweiß schimmernde KaDeWe, davor den dunklen Schlund des U-Bahnhofes Wittenbergplatz. Da! Irgendetwas hat sich bewegt. An der nächsten Ecke schwanken schemenhafte Gestalten. Ich blicke nach vorn.
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