Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Kiesel-Dachterrasse mit geradezu psychedelischem Lüftungsklappen-Muster geleitet den Blick gnadenlos bis zum Horizont. Dort fliegt gerade ein Jumbojet mitten durch den gotischen Turm des Amtsgerichts Wedding. Klarer Fall von optischer Täuschung. Irgendwo weiter hinten ist die Einflugschneise für Tegel Airport.
Aber auch das Interieur ist nicht ohne. Aufwändige türkis-grüne Fliesenfiguren säumen den Fußboden, an den Wänden hängen Themen-Dekos im Stil der 50er-Jahre: alte Filmplakate, alte Feuerwehrschläuche, rustikale Fliegermotive: “Bill’s Flight-School. Beginners welcome!” Jetzt aber schnell rüber in den Mediamarkt. Der billigste Flachbildschirm ist schnell gewählt, auf zur Kasse: “Können Sie uns Ihre Postleitzahl sagen?” Wir schauen uns etwas zögernd an: Wegen Terror oder was!? “Nee, für die Statistik”. Also gut: “10439″. Die Kassiererin lächelt vielwissend: “Aha, die Nachbarn!”
Park-Credibility
Guten Tag, Tristesse. Wer jetzt durch den Mauerpark geht, der bleibt allein. Oder jedenfalls fast. Auf der unsanft ansteigenden, schmutzig grünen Grasnarbe in Richtung Max-Schmeling-Halle kläffen zwei Boxerrüden. Die vereinsamten Liegestühle auf der Wiese glänzen feuchtkalt. Ebenso die Katzenköpfe des Straßenpflasters. Vom Eisverkäufer in seinem kleinen Kastenwagen keine Spur. Nur ein letzter Rest Schnee bildet einen kleinen Buckel, wo es in wärmeren Tagen wieder Gelato Italiano geben wird.
Auf dem Asphalt in der Mitte des Parks spielt ein Streetworker mit zwei Weddinger Halbstarken Basketball. Das ist Street-Credibility. Für Park-Credibility muß man hier wohl bald nicht mehr sorgen. Das tun dann wieder die unzähligen Parkbesucher, sobald die Frostperiode vorbei ist. Dann werden sie wieder jeden Quadratzentimeter intensivst nutzen und diesem eigentlich gar nicht so parkähnlichen Streifen Niemandsland Glaubhaftigkeit aufdrücken. Sie werden trommeln. Sie werden picknicken. Sie werden die Mauer zum Stadion voll sprayen. Sie werden schaukeln und wippen, Fußball spielen, Frisbee und Boule. Oder einfach nur mittendurch gehen.
Selbst Popliteratin Alexa Hennig von Lange pflegt ab und zu hier vorbeizuflanieren. Was nicht ohne Folgen geblieben ist. In einem ihrer Romane kommt irgendjemand in den Mauerpark, klettert über die Stadionmauer und bricht sich den Arm. In Wirklichkeit ist die Chance, sich hier schwer zu verletzen, nur noch relativ gering. Mittlerweile lohnt es sich auch kaum noch, einen Fluchttunnel in Richtung Wedding zu graben. Denn direkt neben dem Mauerpark lockt das gastronomische Angebot der Oderberger Straße – und das sogar im Winter.
Wollmäuse am Nordkap
Nach dem Kino war ich noch ins “Nordkap” gegangen, um ein Bier zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Niemand da, der Wirt döste hinter dem Tresen. Da kam ein Mann mit kahlem Schädel, rotem Schnurrbart und unruhigen Augen herein. Er setzte sich an meinen Tisch, direkt unter die Attrappe des fliegenden Fisches. Der Wirt brachte Bier und Schnaps. “So”, sagte der Mann und nickte mir zu. Darauf schüttete er den Schnaps hinunter, sagte “hah” und schnalzte mit der Zunge. “Nichts für ungut”, sagte er dann, “haben Sie schon mal Einbildungen gehabt? Miserabel. Gehen die Geschäfte? Wieder ein Tag an die Wand, was ist das schon? Mein Vater sagte: Es setzt sich alles aus Verrat zusammen. Aus Verrat.” Die Sache versprach, interessant zu werden.
Der Kahlköpfige redete weiter: “Sind Sie schon mal aus dem Fenster gefallen? Totale Sache!” Er beugte sich vor: “Haben Sie schon mal Mäuse gegessen?” Ich schüttelte den Kopf. “Aber Wollmäuse, haha, wissen Sie, was Wollmäuse sind?” Ich wusste es nicht. “Sagen Sie, junger Mann, was sind Sie wohl?” Ich sagte es ihm. “Zum Teufel”, rief er, und schlug mit der Faust auf den Tisch, “für die Zeitungen? Ach so, nicht politisch, Geschichten, aha. Könnte manche erzählen …”
Da rief ich den Wirt, bestellte ganz ernst Kräuterschnaps für uns beide und schob ihm die Zigarettenschachtel hin. “Sehr zum Wohl, mein Herr”, sprach der Schnurrbärtige und tischte tatsächlich seine Geschichte auf. Die Schnapsrechnung ist inzwischen beim Finanzamt. Die Geschichte aber war leider geklaut, wie ich in der Bibliothek feststellen musste. Was hatte der Kerl noch gesagt? “Ich trinke viel, von Berufs wegen!” Hätte ich mir gleich denken können: ein krimineller Germanist.
Cruck, crack, crick
Es ist nicht acht Uhr morgens, ich
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