Eisiges Herz
ihnen auf dem kleinen Bildschirm erschien.
»Sie hat ihn erwischt«, sagte Cardinal leise. »Sie hat ihn kalt erwischt.«
Der Arm des Mannes war zum Gruß erhoben. Das Licht über der Dachterrassentür warf einen scharfen Schatten seines Arms auf den Boden, so dass er wie eine Warnung wirkte. Trotz des schlechten Lichts war der Mann mit dem breiten Lächeln und dem offenen Gesicht, das an einen großen, gutmütigen Hund erinnerte, genau zu erkennen. Er wirkte wie ein Mann, den jeder sich als Freund oder Lehrer wünschte – und ganz besonders als Arzt und Therapeut.
47
D ie Tabletten lagen auf ihrem Schreibtisch, kleine Pillen, so tröstend blau wie der Abendhimmel. Es waren fast dreißig, fast eine ganze Monatsration, die Dr. Bell ihr liebenswürdigerweise verschrieben hatte, als sie anfangs bei ihm in Behandlung war. Was für ein Segen sie waren, wenn man nicht schlafen konnte. Wenn die Nacht sich schier endlos vor einem erstreckte und das Flutlicht im Kopf anging, beruhigten sie einen wie die warme Hand einer Mutter, die sich liebevoll auf die Stirn legte.
Neben den Tabletten stand ein volles Glas, an dem sich Kondenswasser gebildet hatte. Melanie hob es hoch und schob ihre Übungshefte mit der Aufschrift »Northern University« darunter.
Sich zu verabschieden erforderte mehr Zeit, als sie erwartet hatte. Sie hatte es ganz kurz machen wollen, aber sie brachte es nicht fertig, das ihrer Mutter anzutun, und auch nicht Dr. Bell, der sich so viel Mühe gegeben hatte, ihr zu helfen.
Sorgfältig legte sie die Tabletten wie winzige blaue Kopfkissen in einer Reihe nebeneinander. Mit Hilfe eines Lineals teilte sie sie in Fünfergrüppchen auf und beschäftigte sich einige Minuten lang damit, sie zu Sternen zu arrangieren.
Mach dir bitte keine Vorwürfe
, schrieb sie,
es ist nicht deine Schuld. Du bist mir immer eine gute Mutter gewesen, du hast mir immer alles gegeben, was ich brauchte. Jede andere Tochter wäre zu einer glücklichen, zufriedenen jungen Frau herangewachsen.
Sie schob fünf Tabletten in ihre Handfläche und warf sie sich in den Rachen. Zwei große Schlucke Wasser, und sie waren weg.
Ich liebe dich sehr
, fügte sie hinzu, dann hielt sie inne.
Eine Weile saß sie einfach nur da und starrte nicht auf den Brief, sondern durch den Brief hindurch. Weitere fünf Tabletten. Sie würde sich jetzt beeilen müssen, sonst würde sie bloß einschlafen und in einem noch schlimmeren Zustand als jetzt wieder aufwachen. Sie wollte nicht wieder aufwachen.
Dr. Bell, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie sich von mir abgewendet haben. Was ich Ihnen erzählt habe, war wirklich widerlich, und ich kann verstehen, dass Sie das abgestoßen hat.
Sie warf sich die nächsten fünf Tabletten in den Mund und nahm das Wasserglas in die Hand. Bei dem Gedanken an die Dinge, die sie Dr. Bell in der letzten Sitzung erzählt hatte, musste sie würgen. Irgendwie bekam sie die Tabletten herunter, doch dann überfiel sie ein derartiger Hustenanfall, dass sie fast all ihr Wasser trinken musste, um sich zu beruhigen. Tränen brannten in ihren Augen. Ich werde nicht weinen, sagte sie sich. Ich habe genug geweint. Für immer.
Als guter Therapeut haben Sie wahrscheinlich längst gemerkt, dass mir nicht mehr zu helfen ist, obwohl Sie sich solche Mühe gegeben haben. Wahrscheinlich konnten Sie es einfach nicht übers Herz bringen, mir zu sagen, dass ich unheilbar krank bin.
Weitere fünf Tabletten.
Es tut mir leid
.
Weitere fünf Tabletten.
Es tut mir alles so schrecklich leid
.
48
S ein Vorgehen war nicht ganz koscher, obwohl Cardinal normalerweise größten Wert darauf legte, dass die Vorschriften korrekt eingehalten wurden. Wenn er an diesem frostigen Abend – es gab immer noch keinen Schnee, aber die Temperaturen näherten sich dem Gefrierpunkt – vorschriftsmäßig vorgegangen wäre, hätte er zunächst den Detective Sergeant aufsuchen und ihm seine Beweise vorlegen müssen. Wenn Chouinard die Beweise für ausreichend schwerwiegend befunden hätte, um eine sofortige Verhaftung anzuordnen, hätte er Cardinal zwei Kollegen zur Unterstützung zugeteilt. Wenn nicht, wäre ein Gespräch mit dem Staatsanwalt anberaumt worden, um festzustellen, ob die Beweismittel reichten.
Während er an der Kathedrale vorbei in Richtung Randall Street fuhr, war Cardinal sich bewusst, dass er die Vorschriften missachtete, indem er Chouinard nicht anrief. Andererseits verstieß er schon gegen die Vorschriften, indem er überhaupt an dem
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