Eisiges Herz
war, rechnete er irgendwie immer noch damit, dass Catherine zurückkommen würde.
Die Szene von Bells Aufnahme mit Catherine im Sprechzimmer lief immer wieder in Cardinals Kopf ab. Aber diesmal sah er sie nicht mit den Augen des Ehemannes, sondern mit den Augen des Polizisten.
»Kennen Sie das neue Gateway-Gebäude in der Nähe der Umgehungsstraße?« Die Begeisterung in ihrer Stimme. »Ich werde heute Abend mit meinen Kameras dort hingehen.«
Kameras
. Plural.
Er öffnete den schmalen weißen Wandschrank, in dem sieihre Ausrüstung aufbewahrte. Keine Kameras. Ein paar schwarze, klobige Objektive lagen dort, das waren die, die zu ihrer alten Nikon gehörten. Wahrscheinlich hatte sie die kleineren Objektive mitgenommen. Die Canon fehlte.
Kameras. Plural.
Cardinal ging in den anderen Kellerraum und trat an seine Werkbank, wo er Catherines Sachen abgelegt hatte. Ihre letzten Sachen. Die Plastiktüte von der Klinik, die ihre Kleidung enthielt: ihre Armbanduhr, ein Armband, Sweatshirt, Jeans und Unterwäsche. Keine Kamera.
Er ging nach draußen und durchsuchte Catherines Auto: Boden, Kofferraum, Handschuhfach. Keine Kamera.
Auf dem Weg zurück in die Stadt in seinem eigenen Wagen rief er bei der Spurensicherung an. Collingwood hielt seine Arbeitszeit so exakt ein, wie die Polizeiarbeit es erlaubte. Er erledigte seine Schicht, und dann war er weg, wie eine Figur in einer Spieluhr. Arsenault war anscheinend bloß wegen des Kontrasteffekts auf den Posten versetzt worden, denn man wusste nie, wann man ihn an seinem Arbeitsplatz antraf. Er arbeitete so oft bis spät in die Nacht hinein, dass im Revier schon über sein Privatleben beziehungsweise den Mangel desselben spekuliert wurde.
Arsenault nahm nach dem ersten Läuten ab.
Cardinal kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich muss die Sachen überprüfen, die bei Catherine gefunden wurden«, sagte er, während er einen Pick-up überholte, der zwei Spuren in Anspruch nahm. »Ich muss wissen, ob sich eine Kamera darunter befindet.«
»Das kann ich Ihnen gleich sagen. Ja, es gibt eine Kamera. Eine Nikon. Das Objektiv ist vollkommen zerstört.«
»Nur eine.«
»Ja, John. Wir haben nur eine gefunden.« Arsenault wirkte überrascht.
»Ist noch jemand in der Asservatenkammer? Können Sie die Sachen für mich da rausholen? Ich bin auf dem Weg ins Revier.«
»Nicht nötig. Es steht alles hier bei uns. Der Fall ist abgeschlossen, erinnern Sie sich? Aber ich hatte mir schon gedacht, dass Sie die Sachen früher oder später haben wollten.«
»Ich bin in zehn Minuten da.«
Cardinal überholte einen Honda Civic und raste an der Water Road vorbei. Zum Glück war der meiste Verkehr stadtauswärts unterwegs.
Auf dem Revier ging es ruhig zu. Er hörte jemanden, wahrscheinlich Szelagy, in seine Tastatur hacken, aber ansonsten war die Abteilung menschenleer. Er steuerte auf direktem Weg das Büro der Spurensicherung an. Arsenault saß an seinem Schreibtisch und tippte. An Collingwoods Schreibtisch brannte kein Licht mehr.
»Hallo, John«, sagte Arsenault, ohne aufzusehen. »Die Sachen stehen da drüben.«
Zwei Kartons, ein großer und ein kleiner, standen offen auf einer Arbeitsplatte an der Wand. Cardinal schaltete die Neonbeleuchtung ein.
Als Erstes nahm er sich den kleineren Karton vor. Die Nikon und das zerbrochene Objektiv lagen zwischen Gegenständen, die Catherine zweifellos gehört hatten: ihre Kameratasche und alle möglichen Dinge, die wahrscheinlich herausgefallen waren – ein Notizheft, verschiedene Filter und einige zusätzliche Objektive. Eins davon war silberfarben und trug den Markennamen Canon.
In dem größeren Karton befand sich keine Kamera. Eine ganze Weile blieb Cardinal vor den Kartons stehen und dachte nach. Das einzige Geräusch war das Klicken von Arsenaults Tastatur. Angenommen, Catherine hatte wie gewohnt mit zwei Kameras fotografiert. Das würde bedeuten, dass jemanddie Canon an sich genommen hatte: entweder jemand, der sie bei der Toten gefunden hatte, oder derjenige, der Catherine vom Dach gestoßen hatte.
Dass es ein Gelegenheitsdieb gewesen war, schien ihm unwahrscheinlich. Wer würde, wenn er eine Leiche findet, dieser eine Kamera stehlen – noch dazu eine, die mit Sicherheit zu Bruch gegangen war? Und wenn jemand eine Kamera mitnahm, warum nicht auch die zweite? Angenommen, ihr Mörder hatte die Kamera an sich genommen. Das würde zwei Schlussfolgerungen nahelegen: Entweder jemand hatte Catherine überfallen, um sich in den Besitz der teuren
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