Eiskalte Hand
Spur. Dafür entdeckten sie noch viele andere wundervolle Dinge: Gemälde, Möbel, Kunstgegenstände. Das musste ein Vermögen wert sein. Mia konnte sich gar nicht satt daran sehen. Ein kleiner Salon im hinteren Teil des Hauses fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Über dem steinernen Kamin hing eine hölzerne Tafel, die das Wappen des Hauses Lun zeigte. Rechts und links daneben hingen Gemälde an der Wand. Portraits von verschiedenen Männern und Frauen, alle in Festtagskleidung und mit einem dezenten Lächeln im Gesicht. Es bedurfte gar keiner weiteren Erläuterung. Dies waren Mias Vorfahren. Ihre Familie. Nur mit Mühe konnte sie die Träne zurückhalten, die sich aus ihrem Augenwinkel quetschen wollte. Fragend drehte sie sich zu Doran Zi um. Sie brauchte ihre Frage gar nicht aussprechen. Er verstand sie auch so. Stumm deutete er auf zwei Bilder ganz am Ende der Ahnengalerie. Dann zog er sich auf leisen Sohlen zurück. Dieser Moment gehörte ganz allein Mia und ihrer Familie.
Das erste der Gemälde zeigte eine junge attraktive Frau. Sie hatte langes schwarzes Haar, das kunstvoll zu einem Zopf geflochten war, und einen sanften Gesichtsausdruck. Güte spiegelte sich in ihren grünen Augen. Um den Hals trug sie eine einfache Goldkette mit einem Anhänger, der einen grünlich leuchtenden Stein einfasste – perfekt abgestimmt auf ihre Augenfarbe. Mia schaute die Frau auf dem Bild lange an. ‚Pa Shi. Meine Mutter. Mutter.‘ Nun rollte doch die so mühsam zurückgehaltene Träne über ihre Wange. Gut, dass sie alleine war. Niemand sollte sie jetzt zu Gesicht bekommen. Die dunklen Erinnerungsfetzen aus ihren Träumen bekamen nun ein Gesicht. Wie lange hatte sie darauf warten müssen. Voller Wehmut wandte sie sich nun dem zweiten Gemälde zu, das ihren Vater zeigte: Wuan Ki Lun. Ein stattlicher junger Mann mit kantigen Gesichtszügen. Dennoch wirkte er nicht übertrieben hart oder gar kalt. Im Gegenteil, er strahlte etwas aus, das den Betrachter einlud, länger hinzuschauen. In seinen braunen Augen konnte Mia sofort ihre eigenen wiedererkennen. Dunkel und geheimnisvoll. ‚Wie sind sie wohl gewesen?‘, fragte sie sich und streckte sehnsüchtig die Hand nach den Gemälden aus. Sanft strich sie über die Leinwand und über den Rahmen. Auch wenn es kindisch scheinen mochte, so fühlte sie sich ihren Eltern ein klein wenig näher.
Unvermittelt vernahm sie da plötzlich ein leises Geräusch. Es klang fast, als würde sich etwas drehen. Ein Rad, eine Spule oder etwas Ähnliches. Noch ehe sie die Quelle des Geräusches lokalisieren konnte, begann der Kamin sich zu bewegen. Wie auf unsichtbaren Schienen glitt er zur Seite. Und dahinter kam ein Durchgang in der Wand zum Vorschein. ‚Wie konnte das sein? Die Wände waren aus Papier? Da konnte es doch keine Geheimgänge geben. Oder?‘ Ziemlich verwirrt starrte Mia auf das dunkle Loch, das sich da gerade aufgetan hatte. ‚Und wie war das passiert? Gab es möglicherweise einen Mechanismus an den Bilderrahmen, den sie zufällig ausgelöst hatte?‘ Doch wie dem auch sei, sie hatte eine Entdeckung gemacht. Eine gewaltige Entdeckung. Alle Sentimentalität verflog. Ihr Jagdinstinkt erwachte schlagartig. Schnell lief sie durch das Haus und suchte nach Doran Zi. In einem der Schlafzimmer fand sie ihn. Die heftige Entladung hatte doch sehr an den Kräften des alten Mannes gezehrt. Er lag völlig erschöpft auf dem Bett und machte nicht den Anschein, als wollte er in absehbarer Zeit wieder aufstehen. Geistesgegenwärtig schluckte Mia die Worte wieder herunter, die ihr schon auf der Zunge lagen. „Schlaft gut!“, sagte sie stattdessen, „Morgen wird es euch sicher besser gehen.“ Dann schloss sie die Tür und suchte sich selbst einen Platz zum Schlafen.
Kapitel 49
Nur schwer konnte Mia etwas Ruhe finden. Die ganze Situation erschien ihr so unwirklich. Das Haus – ihr Haus – das voll von ihrer eigenen Geschichte war, einer Geschichte, die Mia kaum kannte, von der sie bis auf wenigen Details nichts wusste. So viele Eindrücke. So viele Fragen. Auf eine Weise, die sie nicht näher beschreiben konnte, fühlte sie sich falsch hier. Irgendetwas sagte ihr, dass sie hier nicht hingehöre. ‚Aber das stimmt nicht!‘, redete sie sich immer wieder ein. ‚Das ist mein Erbe, meine Familie, mein Haus. Und hier gehöre ich hin.‘ Immer stärker wogten die Gedanken in ihrem Kopf hin und her. Müdigkeit und Erschöpfung forderten ihren Tribut. Und schließlich
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