Eiskalte Hand
würde und näherte sich mit unsicheren Schritten dem Tor. Jede Sekunde darauf gefasst, ebenfalls von dem erbarmungslosen Blitzschlag getroffen zu werden. Doch nichts geschah. Schließlich stand sie unmittelbar vor dem Tor. Die beiden hölzernen Torflügel waren genauso gut erhalten wie die Mauer auch. Als hätte man sie gestern erst eingebaut. Rechts neben dem Tor war eine Metallplatte in die Wand eingelassen. Sie zeigte ein Wappen, das sie aus ihren Nachforschungen bereits kannte, aber noch nicht im Original gesehen hatte. Neugierig schaute sie darauf. Ein Phönix war darauf zu erkennen, umgeben von Flammen und zwei Schwertern. In die Flammen hinein waren Buchstaben geschrieben. L – U – N. Das Wappen ihrer Familie. Das Wappen des Hauses Lun.
Noch während sie schaute, begann das Schild mit dem Wappen plötzlich bläulich zu glühen. Mia duckte sich instinktiv, schlug die Hände vors Gesicht – in Erwartung einer erneuten Entladung. Aber alles blieb ruhig. Dann vernahm sie ein leises Klicken. Und nahezu lautlos schwang das Tor vor ihr auf. Das Anwesen hatte seine Besitzerin erkannt und hieß sie willkommen. Aufgeregt und Stolz schritt Mia durch das Tor. Und Doran Zi humpelte hinterher, so schnell er nur konnte.
Es kam ihr vor, als seien sie in eine andere Welt eingetaucht. Ein parkähnlicher Garten umgab die imposante Villa, die ganz im klassischen Stil gehalten war. Die Wände aus Holz, das mit buntem Papier bespannt wurde. Überall gab es kunstvolle Ornamente und Verzierungen. Vor der Eingangstür wachten zwei steinerne Löwen. ‚Die würden Ranja gefallen.‘, dachte Mia. Entlang des Dachs erkannte sie zahlreiche geschnitzte Drachenköpfe. Alles wirkte so lebendig, als seien die Bewohner nur mal kurz fortgegangen und würden jeden Moment wiederkommen. Selbst der Garten erschien gepflegt. Kein bisschen Dreck oder Unkraut. Als sei die Zeit einfach stehen geblieben. Es fehlten eigentlich nur die Kois, die in dem kleinen Teich ihre Runden drehten. Von „böse“ konnte hier ganz bestimmt nicht die Rede sein. Mia ließ den Eindruck lange auf sich wirken. Das war also ihr Erbe, ihr Eigentum. Ein paradiesisches Fleckchen mitten in einem düsteren Wald. Dinge gab’s.
Auch Doran Zi hatte es völlig die Sprache verschlagen. Erschöpft ließ er sich auf eine Bank sinken, die vor dem Haus stand und schaute sich ebenfalls ausgiebig um. Mit einer Hand stützte er den lädierten Brustkorb. So ließ es sich einigermaßen aushalten. Gleichzeitig linste er neugierig zur Eingangstür der Villa herüber. Irgendwo da drinnen befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach das Artefakt. Wie gerne wäre er einfach hineinspaziert und hätte danach gesucht. Doch Mia musste das Haus als erste betreten. Schließlich gehörte es noch ihr. Also wartete er auf die Dinge, die da kommen würden. Darin hatte er schließlich genügend Erfahrung.
Nach einigen Minuten hatte Mia sich gesammelt. All die Gefühle, die in diesem Augenblick auf sie einströmten, waren schon gewaltig. Auf sonderbare Weise fühlte sie sich Zuhause. Angekommen. Und nun wollte sie hinein gehen, sich ihren Palast von innen ansehen. Völlig gelöst schlenderte sie zu Doran Zi herüber und forderte ihn auf, sie zu begleiten. Dann ging sie feierlich auf die Eingangstür zu. Aus den Augenwinkeln schaute sie genau auf die Steinlöwen. Doch sie blieben erstarrt. Ihre Hand legte sich um den bronzenen Türknauf und drehte ihn. Die Tür sprang mit einem leisen ‚Klack‘ auf. Mia betrat ihr Reich und spazierte direkt in eine große helle Eingangshalle. Zwei geschwungene Treppen führten in das erste Obergeschoss. Mehrere Türen gingen in die drei verbliebenen Richtungen ab. Ein Zimmerspringbrunnen plätscherte im Zentrum der Halle vor sich hin. Vergeblich suchte Mia nach einer Lichtquelle. Es gab zwar Leuchter. Doch darin brannten keine Kerzen. Dennoch war alles in ein sanftes und angenehmes Licht getaucht. Noch mehr Magie. Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
„Habt ihr eine Ahnung, wo sich das Artefakt befinden könnte?“, wandte sie sich an Doran Zi. „Leider nein!“, gab der schulterzuckend zurück, „Aber ich würde ziemlich viel darauf wetten, dass es sich irgendwo hier befindet. Solch einen Aufwand betreibt man nicht, um ein einfaches Sommerhaus zu sichern.“ „Dann sollten wir anfangen zu suchen.“ Gemeinsam betraten sie ein Zimmer nach dem anderen. Öffneten jede Tür, schauten hinter jeden Schrank. Doch vom Artefakt fehlte jede
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