EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
begrüßen. Das tat er sonst immer, wenn sie mit seinem Sohn Severin vor der Praxis auf dem Marktplatz spielte. Seit Severin sich vor einigen Wochen beim Turnunterricht in der Schule das Bein gebrochen hatte, sahen sich die beiden nicht mehr jeden Tag. Morgen, dachte sie. Morgen werde ich ihn besuchen, ihm ein Stück Schokolade mitbringen und von meinem neuen Geschwisterchen erzählen.
Der Gedanke an ihren besten Freund ließ sie ruhiger werden. Sie saß ganz still am Tisch und lauschte den Geräuschen, die aus dem Schlafzimmer drangen. Erneut vernahm sie hastige Schritte. Sie versuchte sie zu ignorieren, zwang sich, sitzen zu bleiben, nahm einen roten Buntstift in die Hand und begann verbissen zu zeichnen. Als sie fertig war, zeigte das Bild ein rotes Haus mit einem Apfelbaum; in der Krone des Baumes hockten vier kleine Vögel, neben dem Haus standen zwei Kinder Hand in Hand. Kaum sichtbar, befand sich hinter ihnen ein schmaler schwarzer Schatten mit einem langen Bart, der den Baumwipfel umwickelte. Mittlerweile war im Haus eine merkwürdige Stille eingetreten. Irgendwo weinte jemand. Plötzlich hörte Katharina den hohen Schrei eines Babys.
Das Kind schrie so laut, dass man es in der ganzen Wohnung hören konnte. Wenig später betrat Frau Brendel die Küche und hielt ein Bündel in den Armen. Katharina sprang auf, ihr Gesicht strahlte.
„Katharina, du hast eine Schwester, und deiner Mutter geht es gut“, sagte die erschöpfte Hebamme und lachte. „Schau sie dir an. Ihr Name ist Anna“, ergänzte sie sanft, den Blick stolz auf das Neugeborene gerichtet.
Katharina stand auf und berührte ganz vorsichtig die Finger ihrer Schwester. „Darf ich sie auf den Arm nehmen?“, fragte sie mit großen Augen.
„Später, jetzt müssen wir beide wieder zurück zu deiner Mutter. Schließlich sind das heute die beiden Hauptpersonen. Ich hoffe, dass du das verstehst, immerhin bist du ja schon ein großes Mädchen“, entgegnete Frau Brendel und ging mit Anna wieder ins Schlafzimmer. Dann endlich betrat Dr. Corelli die Küche. Er wirkte abgespannt, als hätte er in der vergangenen Nacht nur wenige Stunden geschlafen.
„Na, Katharina, was sagst du zu deinem kleinen Schwesterchen? Sie ist mein drittes Baby innerhalb von vierundzwanzig Stunden.“
„Sie ist so winzig“, antwortete Katharina staunend.
Nicolas Corelli krempelte seine Hemdsärmel hoch und warf ihr einen kurzen Blick zu. „Das kriegen wir schon hin. Deine Schwester wird bald gesund und kräftig werden. Ich werde jeden Tag nach ihr sehen.“ Er seifte gründlich seine Hände und Arme ein. „Severin hat übrigens nach dir gefragt.“
„Hat er immer noch Schmerzen?“
„Nein, es geht ihm schon viel besser. Nächste Woche werde ich den Gips entfernen. Anschließend kann er mit den Gehübungen beginnen und auch bald wieder am Unterricht teilnehmen. Seine Mutter freut sich schon darauf. Er nervt, sagt sie. Besuch uns doch mal wieder.“
Katharina legte den Kopf schief. „Ja, gut. Vielleicht morgen.“
***
Nachdem Dr. Corelli gegangen und ihre Mutter und das Baby versorgt waren, bereitete Frau Brendel das Abendessen zu. Pfannkuchen mit Marmelade. Katharina nahm zwei Teller aus dem Schrank, deckte den Tisch und setzte sich.
„Wo ist denn eigentlich dein Vater, Katharina?“
„Er ist nicht mein Vater“, antwortete sie trotzig.
„Du weißt nicht, wo er ist?“
„Nein!“
Die Hebamme sah sie fragend an, schwieg aber.
„Frau Brendel, wieso kommen die Babys eigentlich erst nach neun Monaten auf die Welt?“, wollte sie wissen.
„Weil ein Baby diese Zeit braucht, um zu wachsen und sich auf die Geburt vorzubereiten“, antwortete Philomena Brendel und hielt kurz inne. „Und weil Gott es so bestimmt hat.“
„Ich bin froh, dass Sie bei uns sind“, sagte Katharina leise.
Frau Brendel tätschelte beruhigend ihren Handrücken.
Katharina sah nachdenklich von ihrem Teller auf. „Hat man ein adoptiertes Kind genauso lieb wie ein Kind, das aus dem Bauch der Mutter kommt, Frau Brendel?“
Philomena Brendel sah sie erstaunt an. „Wieso fragst du?“
„Severin hat mir erzählt, dass Dr. Corelli ihn adoptiert hat, nachdem seine Mutter die Frau vom Doktor wurde. Sie kann keine weiteren Babys bekommen.“
„Ich bin mir sicher, dass Dr. Corelli ihn genauso liebhat wie deine Eltern dich.“
Katharina nickte und schwieg. Warum sollte sie ihr sagen, dass Ben sie nicht mochte und auch sie ihn verabscheute?
„Sie sind nett, Frau Brendel“, sagte
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