EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
die unter dem dunklen, fast schwarzen Haar leuchteten, seine hohe Stirn und die schmale Nase, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen, sie waren unwiderstehliche Attribute dieser unvergleichlichen Schönheit. Seine Lippen übten eine besondere Anziehungskraft aus. Spätestens wenn sie sich zu einem Lächeln formten, verfielen ihm die Frauen. Doch keine von ihnen wusste, dass es die Lippen seiner Mutter waren.
Er konnte jede Frau haben und sich jeden Wunsch erfüllen lassen.
Bei Julia war es ihm nur vordergründig gelungen, die Macht ihrer Weiblichkeit zu brechen. Sie hatte aufgebracht und unbeherrscht reagiert, als er sich ihr näherte. Dabei war sie doch eine Liebesdienerin.
Jakob ergriff sein Skalpell, trennte die rechte Hand vom Arm und wickelte sie in eine Plastiktüte. Dann nahm er einen blauen Müllsack, zog ihn über ihren Körper und streute die mitgebrachten Teerosen darüber. Der Verwesungsgeruch vermischte sich obszön mit dem Duft der Rosen.
Er sah sich ein letztes Mal um, entfernte einige Fotos von der Pinnwand, auf denen Julia mit unterschiedlichen Männern zu sehen war, und verließ das Schlafzimmer.
Im Garten drehte er sich zu ihrem Fenster um und flüsterte: „Träum was Schönes!“
Er zog seine Einweghandschuhe aus, steckte sie in die Hosentasche und warf das Skalpell auf den Rasen. Bis jetzt hatten die Beamten noch keines seiner Rätsel gelöst.
Er grinste. Er fühlte sich frisch und entspannt und würde einen Spaziergang durch die Isarauen machen. Danach würde er zu Katharinas Lieblingsplatz gehen, sich auf ihre Bank setzen und sich ungestört an Julia erinnern und daran, wie ihr Kleid geraschelt hatte, als sie für ihn getanzt hatte. Niemand konnte ihn sehen in der Dunkelheit dieser Frühlingsnacht. Er würde das Wochenende in seiner Blockhütte verbringen, und dabei stand ihm jedes Vergnügen offen.
Er war ein Mann, der jede Frau der Welt haben konnte. Sie erfüllten ihm jeden Wunsch, freiwillig oder auch nicht. Er besaß ungeheure Stärke und Macht, in jeder Hinsicht. Er war ein Gott.
Kapitel 4
Katharinas Schwester Anna wurde an einem schönen Sonntagnachmittag im Frühling unter Mithilfe der Hebamme Philomena Brendel geboren.
Bereits am frühen Morgen war Frau Brendel erschienen, hängte der zehnjährigen Katharina den Ranzen um und sagte ihr, sie solle zu den Großeltern gehen, um dort die Hausaufgaben zu machen.
Auf der Straße zögerte Katharina einen Moment und schlug den Weg zum Weiher ein, der im Wäldchen hinter dem Friedhof lag. Dort setzte sie sich auf die kleine Bank neben dem Bootsschuppen, nahm ihr Tagebuch und schrieb:
3. 5. 1981
Mama hat mir ein rotes Tagebuch geschenkt. Sie selbst hat ein grünes, dem sie ihre Geheimnisse anvertraut, aber auch ihre täglichen Erlebnisse, ihre Träume, ihre Wünsche, ihren Kummer und all das, worüber man eben nicht sprechen möchte. Jetzt verstehe ich, warum Mamas Tagebuch so dick ist. Es gibt bestimmt eine Menge, worüber sie nicht sprechen möchte.
Seit sie vor fünf Monaten diesen Mann geheiratet hat und er mit uns in der winzigen Wohnung lebt, hat sich vieles verändert. Mein Bett steht seitdem im Flur, und Mama hat mir verboten, nachts ins Schlafzimmer zu kommen und unter ihre Bettdecke zu schlüpfen. Seit Papas Tod vor drei Jahren habe ich das oft gemacht, aber jetzt …
Selbst tagsüber umarmt Mama mich immer seltener, obwohl ich sicher bin, dass sie mich liebhat. Aber seit dieser Mann bei uns lebt, hat sie sich verändert.
„Ben Wendel ist jetzt dein Vater, du kannst ihn Ben nennen oder auch Papa zu ihm sagen, wenn du möchtest“, hat Mama gesagt, als könne man einen Papa einfach so austauschen. Aber ich will keinen neuen Vater. Mein Papa ist tot, und diesen Mann mag ich nicht. Deshalb werde ich ihn Ben nennen.
Ben ist wirklich seltsam. Er trägt immer schwarze Anzüge. Severin sagt, er wirkt hager und steif, besonders weil er auch noch dunkles Haar hat, das immer perfekt gekämmt ist. Es lenkt von den grauen Augen ab. Augen unter buschigen Brauen, die mich oft so seltsam ansehen, dass ich davon eine Gänsehaut bekomme .
Katharina klappte das Tagebuch zu, nahm Jasper, ihren Teddy, aus dem Schulranzen und drückte ihn fest an sich.
Ben lachte selten, und wahrscheinlich lag es an den stets leicht heruntergezogenen Mundwinkeln, dass sie ihn seit der ersten Begegnung nicht mochte. Es hatte sich schnell gezeigt, dass er ein jähzorniger Mann war.
Wenn sie gemeinsam am Tisch saßen, dauerte es nie lange, bis er
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