EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
verärgert.
„Ist doch nur ein Traum.“
„Aber manche Träume sind wahr.“
„Hast du heute Mathe?“, versuchte er sie abzulenken.
„Nein!“, antwortete sie beleidigt. „Was soll das heißen, ich bin der Schatten von Jakob?“
„Keine Ahnung. Ich weiß doch nicht, wer Jakob ist. Woher soll ich das wissen? Die Alte spinnt echt.“
„Und weißt du, was ich dann gemacht habe?“
„Was denn?“
„Ich hab sie angeschrien. Ich hab ihr gesagt, dass sie böse und eine Lügnerin ist, doch sie konnte mich nicht hören, weil der Wind so gerauscht hat. Und dann hat sie ausgesehen wie in der Geisterbahn, so mit glühenden Augen und so.“
„So was träumst du? Mannomann.“
„Und dann ist sie wieder zurück zur Kommode, und kurz bevor sie in die geöffnete Schublade gekrochen ist, da hat sie sich noch einmal zu mir umgedreht. Und weißt du, was sie gerufen hat? Ich komme wieder, Mädchen. Ich werde jede Nacht wiederkommen! Dann habe ich die Lade schnell zugemacht. Und dabei habe ich gehört, wie sie gezischt hat: Hüte dich vor Jakob! “
Severin lachte.
„Das ist nicht lustig!“, sagte sie streng.
„Mann, das ist doch total bescheuert, aber wirklich! Den Jakob gibt’s nicht! Echt! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Wer soll dir denn was tun, wenn es ihn nicht gibt? Das hat sich die Alte eingebildet. Die spinnt total, das weißt du doch. Wann machst du denn Mathe?“
Er erntete einen Seitenblick. „Severin?“
Ein wenig irritiert sah er zu ihr auf.
„Severin, ich will nie wieder unseren Schulweg gehen. Ich will nie wieder an der Alten vorbeilaufen. Abgemacht?“
Er nickte. „Meinetwegen. Aber welchen Weg sollen wir gehen? Über den Friedhof? Überleg mal: jeden Tag über den Friedhof zur Schule. Das ist echt scheiße.“
„Besser über den Friedhof gehen, als dass mich vielleicht jemand … äh … umbringt.“
Er sah sie groß an. „Spinnst du?“
Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu.
„Wer soll dich denn umbringen?“, fragte er etwas verunsichert. „Meinst du vielleicht, dieser …?“
„Ja, dieser Jakob.“
Fast wäre ihm wieder dieses großkotzige Mann, das ist doch total bescheuert, aber wirklich! herausgerutscht. Er wollte Katharina aber nicht noch mehr verärgern und sagte stattdessen: „Ich geh jetzt zum Fußball. Kannst du mir dann, äh, nachher die Matheaufgaben geben?“
„Ja“, sagte sie gedankenlos und nickte.
„Katharina?“
„Ja?“
„Du bist meine Sonne!“, sagte er leise.
Und da erhellte sich ihr Gesicht.
***
In der Nacht wälzte sich Severin unruhig im Schlaf hin und her. Die Worte der alten Frau beschäftigten ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er würde mit seiner Mutter sprechen. Sie kannte die Alte, denn sie kochte ihr hin und wieder eine kräftige Suppe, kümmerte sich gelegentlich um den alten Wohnwagen, in dem die Vettel hauste, und brachte so etwas menschliche Wärme in eine verwirrte Welt. Er bewunderte seine Mutter dafür. Sie erklärte ihm, dass alte Menschen mitunter verwirrt seien und unter Sinnestäuschungen litten, sie sähen und hörten manchmal etwas, das nicht existierte. Die Alte sei völlig harmlos.
Trotzdem …
Jakob . Von wem war da die Rede? Wie konnte er Katharina vor etwas beschützen, das er selbst nicht kannte? Er hatte ihr zwar gesagt, dass er das alles bescheuert fand, aber allmählich sorgte er sich um seine beste Freundin. Er konnte ihr alles erzählen, und sie beschützten sich gegenseitig. Sie nahm ihn häufig gegen die Raufbolde seiner Schule in Schutz. Wie neulich, als der dicke Freddy ihm aufgelauert und ihn gehänselt hatte. Katharina war auf Freddy zugegangen und hatte ihn vors Schienbein getreten. Anschließend hatte sie Severin umarmt und liebevoll seine Haare gestreichelt.
„Lass mal, der ist nur neidisch auf deine Locken.“
Überhaupt sprach sie immer in ruhigem Ton. Am liebsten mochte er es, wenn sie mit sanfter Stimme Geschichten erzählte und ihre blauen Augen dabei Funken sprühten. Sie hatte die schönsten blauen Augen, die er jemals gesehen hatte, und langes blondes Engelshaar. Kein Wunder, dachte er. Sie ist auch ein Engel. Mein Engel.
***
Jakob ging über den Kirchplatz und hörte das fröhliche Lachen der spielenden Katharina. Er blieb einen kurzen Moment stehen, um ihr zu lauschen. Das Lachen war so ansteckend, so rein und klar. Sie war sein Mädchen – eine Träumerin, die in einer Märchenwelt lebte.
Als er an der Alten vorbeiging, verbarg sie sich ängstlich in ihren
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