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EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller

EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller

Titel: EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Korten
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den Marktplatz überqueren, und für Jakob war das der schönste Moment des Tages.

Kapitel 2
    Montag
    Die zerlumpte Alte bot einen seltsamen Anblick. Sie saß in ihren alten, bodenlangen Röcken und ihrer grauen Wolljacke, die sie mit Sicherheitsnadeln zusammenhielt, auf einem großen Stein gegenüber der alten Dorfkirche, direkt an der Straßenkurve hinter dem Friedhof. Die Beine rechts und links weit von sich gestreckt, den Oberkörper nach vorn gebeugt, hielt sie den Blick starr auf die Straße gerichtet. Aus der Ferne wirkte sie nachdenklich, geradezu apathisch, in sich selbst versponnen, geistig verwirrt, weit weg vom Dorf und seinen Bewohnern. Doch Katharina war für ihre zehn Jahre ein kluges Mädchen; sie spürte, dass der Alten nichts entging. Ihre dunkle, ledrige Haut ließ sie von weitem als exotische Fremde erscheinen. Um sie rankten sich zahlreiche Gerüchte. Es hieß, sie sei eine Hexe und gebiete über magische Kräfte.
    Mit Argusaugen beobachtete die Alte jeden von Katharinas Schritten. Jedes Mal, wenn sie und Severin auf dem Weg zur Schule an ihr vorbeikamen, winkte sie sie mit ihren knochigen Fingern zu sich und bedrängte sie, stehen zu bleiben. Was wollte sie eigentlich von ihnen? Sie wussten es nicht, denn Katharina und Severin konnten ihr eigenartiges Kauderwelsch nicht verstehen. Heute umklammerte ihre Hand einen kleinen, runden Spiegel. Sie sprach mit ihrem Spiegelbild und schien verwirrter als sonst.
    Severin grinste. „Die Hexe ist voll aufgeregt. Was hat sie denn?“
    „Weiß nicht“, meinte Katharina leichthin. Sie war noch etwas zerstreut. Morgens zog immer noch ein wenig die Nacht an ihr.
    „Schau mal, sie meint dich“, sagte Severin.
    „Hm?“
    „Dich!“
    „Wieso?“
    „Weiß ich doch nicht. Geh zu ihr, sonst dreht sie noch durch.“
    „Du aber auch.“
    „Klar.“
    Die Alte verließ den Stein kaum jemals. Es schien, als wäre sie mit ihm verwachsen. Doch als Katharina vor ihr stand und in ihre funkelnden Äuglein schaute, sprang sie auf und gab seltsame Laute von sich, die Katharina mit Mühe als Sprache identifizieren konnte, aber bis auf wenige Worte nicht verstand.
    „Jakob, böse ... böse. Aufpassen!“
    Katharina blieb wie angewurzelt stehen und schaute hilfesuchend zu Severin, doch der zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Komm, wir gehen. Lass sie!“
    Zusammen mit ihm setzte sie den Weg zur Schule fort. „Wer ist Jakob?“, fragte sie ängstlich und drehte sich noch einmal unsicher um. Im Dorf kannte sie niemanden, der diesen Namen trug.
    „Weiß nicht. Kenn ich nicht.“ Severin tippte sich an die Stirn. „Lass sie, die hat ’ne Schraube locker, das weißt du doch.“
    Katharina drehte sich noch einmal um. „Sie läuft hinter uns her!“
    Mit schnellen, trippelnden Schritten eilte die Alte auf sie zu und schrie Severin an, er sei ein verkleideter Fremder wie der Mann auf dem Dach ihres Hauses – dabei deutete sie mit ihrem knochigen Zeigefinger auf Katharina. Doch Severin nahm seine Freundin an die Hand und lief mit ihr fort.
    In Momenten wie diesen war sie froh, dass er sie auf dem Weg zur Schule begleitete. Seit dem ersten Tag, als sie ihn im Kindergarten kennengelernt hatte, war er ihr großer Beschützer.
    Sie nahmen die Abkürzung über den Friedhof und rannten ungeachtet des strengen Verbots ihrer Eltern durch das dahinterliegende Wäldchen weiter in Richtung Schule. Angeblich strolchte da öfter ein komischer, verwirrter Junge herum, der auffällig mit dem Kopf wackelte, wenn er andere Kinder ansprach. Die Eltern wollten nicht, dass sie mit ihm Umgang hatten.
    In der Schule kursierten die schaurigsten Geschichten über die Alte, und Katharina bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn die Kinder hinter vorgehaltener Hand flüsterten, dass sie nachts über den Friedhof lief und die Toten weckte. Manchmal träumte Katharina von ihr. Erst gestern hatte sie Severin davon erzählt.
    In ihrem Traum hatte sich die Schublade ihrer Kommode ganz langsam geöffnet, und etwas Graues, Schlangenförmiges war herausgekrochen. Trotz der Dunkelheit hatte sie die Alte erkannt. In ihren Lumpen war sie zu ihr herübergeschlichen und hatte sich auf ihr Bett gesetzt. Dabei hatte sie so komisch die Augen verdreht und geflüstert: „Ich weiß, wer du bist. Du bist Jakobs Schatten, und du bist eine Sonne im Niemandsland.“
    „Was ist das, eine Sonne im Niemandsland?“, fragte sie Severin.
    „Weiß nicht“, sagte der hilflos.
    „Ist es dir egal?“, fragte sie

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