Eiskalte Verfuehrung
Müdigkeit, und sie tauchte schnell und tief ab.
Das Eis auf den Bäumen glitzerte wie Diamanten im Sonnenlicht, und der Himmel strahlte in reinem, frischem Blau. Die Szenerie wäre atemberaubend schön, ging es Lolly durch den Kopf, würde man sie durchs Fenster mit einem knisternden Kaminfeuer hinter sich betrachten. Doch sie war Bestandteil dieses Bildes, zu dem kalte Luft, ein glatter Boden unter ihren Füßen und zu allem Überfluss umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste gehörten, die im Weg lagen – als wäre der Abstieg auf dieser Eisplatte nicht schon Herausforderung genug.
Da sie nicht wusste, wann sie in der Lage wäre, zurückzukommen, hatte Lolly sich alles, was sie brauchte, in die Taschen gestopft. Schlüssel, Führerschein, Bargeld, Kreditkarten und ihr Handy, das zu gar nichts taugte, bis sie die Schnellstraße erreichten. Alles andere hatte sie im Haus gelassen. Sie hatte keine Ahnung, wann sie ihren Mercedes abholen konnte. Womöglich musste sie sich eine andere Transportmöglichkeit nach Portland einfallen lassen und das Auto dann später abholen kommen, wenn die Straßen frei waren. Alles hing davon ab, wie übel die Situation sich in der Stadt gestaltete und wie der Zustand der Straßen den Berg hinauf waren.
Zumindest entsprach ihre Kleidung aber den Wetterverhältnissen besser. Sie hatte ihren eigenen dicken Mantel mit Kapuze an, ihre Stiefel, ihre Handschuhe. Die Sonne schien, und sie konnten sehen, wohin sie gingen. Zumindest waren keine mörderischen Junkies hinter ihnen her. Alles in allem gestaltete sich an diesem Morgen alles erheblich besser als am Abend zuvor, obwohl die Luft noch so eisig war, dass sie kaum atmen konnte und sich Nase und Mund mit ihrem Schal zudecken musste. Da die Sonne auf dem Eis arg blendete, trugen sie und Gabriel eine Sonnenbrille. Verglichen mit der vergangenen Nacht war dies ein Spaziergang im Park. Ja sicher, kalt war es schon, aber es wehte kein schneidender Wind, es regnete nicht. Nur die Hinterlassenschaften des Sturms waren noch vorhanden – die umgestürzten Bäume, der vereiste Boden, die eisige Luft.
Die Bäume trugen noch immer schwer an der Last des Eises, das würde sie bei ihrem Abstieg am meisten behindern. Sie hatten kaum das Haus verlassen, da hörten sie auch schon das vertraute Knacken, gefolgt von einem Knall. Gabriels Kopf hatte sich bei dem Geräusch in Windeseile gedreht, und er hielt inne, lauschte, als wäre er in der Lage zu sagen, wo dieser Baum sich befand, wie nah er war. Der Baum war in der Ferne umgestürzt, in den Wäldern, die Lollys Elternhaus umgaben, doch irgendwie hatte das etwas von einer Warnung. Sie konnten nicht von diesem Berg absteigen, ohne sich unter den Bäumen fortzubewegen. Das Eis schmolz noch nicht, dazu war die Luft noch zu kalt, und somit konnte jeder Baum jeden Moment umstürzen. Sie mussten ununterbrochen auf der Hut sein vor den durch die Last des Eises geschwächten Ästen über sich.
Dieses Abenteuer war noch nicht ausgestanden, noch lange nicht.
Gabriel hielt sich nah bei ihr, entweder direkt neben ihr oder unmittelbar vor ihr, je nachdem, wie breit der mit Gras bewachsene Seitenstreifen neben der Zufahrtsstraße war, auf dem sie dahinstapften, und wie dicht die Vegetation. Auch wenn er nicht viel sagte, mussten Gabriel die umstürzenden Bäume ebensolche Sorgen bereiten wie ihr. Deshalb warf er oft einen Blick nach oben und folgte, wenn möglich, einem Pfad, der nicht direkt unter den überhängenden Ästen verlief.
Sie hatten die Zufahrtsstraße zur Hälfte nach unten geschafft, als sie zu einem gesplitterten, vereisten Baum kamen, der tückisch über den Weg gestürzt war. Gabriel schwang sich auf den Stamm und reichte Lolly die Hand, um ihr darüber hinwegzuhelfen. Es war ja schon schwierig, auf dem vereisten Boden voranzukommen, aber sich über Hindernisse zu kämpfen, machte ihnen das Leben noch schwerer. Hätten sie ausreichend Lebensmittel und Propangas gehabt, wären sie im Haus besser aufgehoben gewesen, bis Hilfe kam. Das war zumindest Lollys Meinung. Gabriel hatte ja vielleicht andere Vorstellungen, denn schließlich hatte er seinen Sohn allein gelassen, um ihr zu Hilfe zu kommen, und nun wollte er natürlich unbedingt nach Hause.
Wandern war nicht ihr Ding. Sie mochte Sport überhaupt nicht, sah man einmal von der Bewunderung ab, die sie der Kondition von Berufssportlern entgegenbrachte; jedenfalls wusste sie einen knackigen Hintern zu würdigen, wenn ihr einer ins Auge stach.
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