Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
zünden uns Zigaretten an, Carla steckt sich ihre in den Mundwinkel und die Hände tief in die Manteltaschen.
»Scheißkalt ist das«, sagt sie.
Ich ziehe den Rauch in meine Lungen, zusammen mit der eisigen Luft.
»Du bist traurig wegen dem alten Mann, hm?« Carla sieht aus wie eine schlechte, durch Weichspüler gezogene Bogart-Imitation, mit ihrem Hafenblick in den Augen und ihrer Kippe im Mundwinkel.
»Ich kann nicht verstehen, warum jemand so was tut«, sage ich. »Obdachlose verprügeln. Diese armen Kerle sind doch eh schon die Ärsche am Ende der Kette. Deren Leben ist echt beschissen genug. Wer tritt denn da noch drauf? Wer macht so was?«
»Es gibt auch Leute, die kleine Kinder vergewaltigen«, sagt sie. »Und es gibt Kinder, die Katzen anzünden.«
»Wollen wir jetzt einen Herzlosigkeitswettbewerb aufmachen, oder was?«
»Blödsinn«, sagt Carla. »Aber die Welt ist eine Ansammlung von Sauereien. Von denen du ja auch immer jede Menge mitkriegst. Ich versteh nicht ganz, warum dich ausgerechnet diese alten Männer so mitnehmen.«
Ich ziehe an meiner Zigarette. Die Elbe hat eine zackige Strömung heute. Die Schatten schieben sich zusammen und werden gewaltiger. In ein paar Tagen wird es kaum noch eisfreie Stellen geben. Ich schätze, spätestens an Neujahr wird die Elbe gefrieren, zumindest für einen kurzen Moment.
»Weil die alten Männer einsam sind«, sage ich. »Und weil die Einsamkeit ein großer, dunkler Sack ist, an dem man schon schwer genug trägt. Da braucht man gar keine Prügel mehr, um am Boden zu sein.«
Ich ziehe noch mal an meiner Zigarette, dann schmeiße ich sie in die Elbe.
»Deshalb.«
Wir trinken unsere Wodkas aus, schauen nach oben und lassen uns den Schnee auf die Stirn fallen. Die Flocken glitzern, und weil am Hafen so viele Lampen brennen, sieht es aus, als würden Glühwürmchen vom Himmel fallen.
24. Dezember:
Ich wollte nicht alleine sein
H eiligabend. Gegen Mittag. Gestern Nacht muss eine Axt in meinem Kopf gelandet sein. Oder eine Atombombe. Ich schleiche an der Wand entlang in die Küche und taste meinen Schrank nach Kopfschmerztabletten ab. Finde zwei Ibuprofen und dem Himmel sei Dank auch den Wasserhahn. Dann lege ich mich noch mal hin. Erst mal warten, bis das Gewummer in meinem Gehirn aufhört.
Zwei Minuten später klingelt es.
Noch eine Minute später wünschte ich, ein Flugzeug würde vom Himmel stürzen und mich mitsamt der Türschwelle unter meinen Füßen einfach wegrasieren.
Meine Mutter ist da.
Ich war zwei Jahre alt, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern, und trotzdem dauert es nur ein paar Sekunden, bis ich begreife, wer da mit Rollköfferchen im Türrahmen steht. Sie ist zwei Köpfe kleiner als ich, aber sie hat meine Haare, sie hat es sogar geschafft, exakt unseren Farbton zu halten beziehungsweise ihn beim Färben zu treffen. Ein kastaniges Brünett. Und sie hat meinen Mund mit den großen Lippen, nur mit Lippenstift drauf. Mehr Gemeinsamkeiten haben wir auf den ersten Blick nicht, das erleichtert mich. Ich bin froh, in Statur und Blick mein Vater zu sein.
»Freust du dich?«, fragt sie und lächelt ein Lächeln, mit dem sie eine Konservendose öffnen könnte.
Ich weiß nicht, ob ich mich freue. Ich glaube nicht.
»Äh«, sage ich.
Sie hat nicht mal Blumen dabei. Nicht, dass ich der Typ wäre, der Blumen braucht. Aber das kann sie ja nicht wissen. Und man bringt doch Blumen mit, wenn man unangemeldet jemanden besucht, oder nicht? Das weiß ja sogar ich.
Mein Kopf wird von einer Welle aus Schmerz gewaschen, ich muss mich für einen Moment an der Wand festhalten. Dummerweise weiche ich dabei zur Seite und räume meinen Platz im Türrahmen. Sie interpretiert das als Aufforderung hereinzukommen. Ich kann nichts dagegen tun. Ein Problem daran, dass einem die Mutter vor Jahrzehnten davongelaufen ist: Man hat keine Ahnung, wie man eigentlich mit einer Mutter umgeht.
»Schön«, sagt sie, als sie ihr Köfferchen durch meine Wohnung rollert. »Ja, wirklich, beautiful. Ich hab mich immer gefragt, wie du wohl so wohnst.«
»Du hättest mich fragen können«, sage ich.
Sie lächelt wieder ihr Büchsenöffnerlächeln und sagt: »Oh, come on. Ich war in Wisconsin!«
Sie spricht mit zwei Akzenten. Ein bisschen hessisch, ein bisschen mehr amerikanisch. Und es ist offensichtlich, dass sie entsetzt ist darüber, wie ich wohne. Sie steht am Wohnzimmerfenster und schaut auf die Straße runter. Sie gibt sich
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