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Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)

Titel: Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Buchholz
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zu Hause. Wer eine Familie hat, hockt unterm Baum. Wer keine Familie hat, versteckt sich traurig vorm Fernseher. Und geht auf keinen Fall raus. Das würde nämlich nur noch trauriger machen, weil ja draußen auch keiner ist.
    Ich habe auf meinem Weg bisher keinen einzigen Menschen getroffen. Aber jetzt sehe ich einen. Trägt unterm weißen Kittel einen dicken Anorak und unterm weißen Käppi eine Wollmütze. Steht da vorne am Wurstgrill und brät Würstchen. Keine Ahnung, für wen er die brät, ist ja niemand da, der ihm was abkaufen könnte. Zumindest bewegt er sich und holt mich aus meinem Wattepaket. Er winkt mir zu, als ich an der Ampel stehe. Ich winke zurück, wir lächeln uns an, und dann sehe ich, wie schön diese Kreuzung gerade ist. Wie gut der Reeperbahn die Stille tut. Und der Schnee. Es hat in den letzten zwei Tagen ja immer mal wieder gut geschneit, und es ist kalt genug geworden, damit die Flocken liegen bleiben können. Die weißen Dächer, die dicken Hauben auf den Laternen und die zuckergussigen Ränder auf den Gehsteigen lassen die Leuchtreklamen der Kiezläden weicher erscheinen. Verwischter. Verhuschter. Und gleichzeitig bunter. Wie ein Lebkuchenhaus, das ein bisschen den Verstand verloren hat.
    Ich überquere die Reeperbahn, winke dem Würstchenmann noch mal zu, an der Davidwache löst sich eine kleine Lawine von der blauen Leuchtschrift und fällt mir direkt vor die Füße. Die wabernde Stille trägt das Nebelhorn eines großen Schiffes vom Hafen herüber. Ich atme tief ein und wieder aus, ich halte den ozeanischen Anteil der Luft in meinen Lungen fest, ich gehe die Davidstraße hoch, und als ich in die Friedrichstraße einbiege, habe ich meine Mutter vergessen.
    Klatsche hat uns alle in die Blaue Nacht bestellt. »Weihnachten wegdrücken«, hat er gesagt. »Wozu haben wir denn eine eigene Kneipe?«
    Ich mache die Tür zu Klatsches Bar auf, und da empfängt mich all das, was ich an dem Jungen so mag: Wärme, heitere Unvollkommenheit und ein Leuchten. Er hat heute Abend alle elektrischen Lichter ausgelassen, nur die rote »Blaue Nacht«-Neonschrift über der Theke ist an. Aus der Jukebox plätschern Melodien von Ennio Morricone. Auf den Tischen und in den Fenstern stehen weiße Kerzen, dünne, dicke, kleine, große. Es gibt kein Weihnachtsdings, keine Dekoration, nur dieses spezielle dunkle Licht und Klatsches Gesicht. Seine Augen, die einen liebevollen, immer gnädigen Blick auf die Welt werfen. Seine Wangen, die lebendig glänzen. Sein ganzes Wesen, das so verflixt viel Zuversicht ausstrahlt. Und er hat die alten Heizkörper bis zum Anschlag aufgedreht. Er weiß, dass ich schnell friere.
    »Hey«, sagt er und lächelt mich an, als wäre ich das Christkind. »Wie schön, dass du da bist, Baby.«
    »Wie schön, dass du da bist«, sage ich. »Und du darfst mich heute ausnahmsweise Baby nennen.«
    »Yes!« Er macht die Beckerfaust.
    Ich ziehe meinen Mantel aus und schlüpfe zu ihm hinter die Theke. Er legt seinen linken Arm um meine Taille, zieht mich an sich und gibt mir einen langen Kuss, den ich ziemlich gut gebrauchen kann. In der rechten Hand hält er die Zigarette, die er sich gerade angezündet hatte. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und lasse ihn da auch erstmal eine Weile liegen. So was mache ich normalerweise nicht, das ist eigentlich überhaupt nicht mein Stil. Aber ich bin in wehmütiger Stimmung. Als ich die Titelmelodie von »Der Profi« höre, kriecht mir eine winzige Träne ins Auge, die erste Weihnachtsträne der Saison, alle Jahre wieder, und dann geht die Tür auf, und Carla und Rocco sind da. Ich wische mir schnell übers Auge und nehme meinen Kopf von Klatsches Schulter, aber Carla hat es gesehen.
    »Hier ist das aber kuschelig«, sagt sie und grinst mich an. Ich tue so, als würde ich ihren Blick nicht bemerken.
    »Hab ich extra gemacht«, sagt Klatsche, »nur für euch.«
    »Is’ klar«, sagt Carla.
    »Mach mal Bier auf«, sagt Rocco.
    »Heute gibt’s kein Bier«, sagt Klatsche, »heute gibt’s was Besseres. Setzt euch an den Tisch dahinten und haltet schon mal die Luft an.«
    Wir setzen uns an einen Ecktisch mit drei besonders herzhaft runtergebrannten Kerzen. Klatsche holt eine goldene Flasche schottischen Single Malt und vier Gläser aus dem Regal und stellt alles mitten auf den Tisch.
    »Schöne Weihnachten, liebe Freunde«, sagt er.
    »Ich dachte, wir schenken uns nichts!« Carla kuckt ihn vorwurfsvoll an. »Ich hab jetzt gar nichts dabei, ich …«
    »Ihr seid

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