Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
wirklich Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen, aber es gelingt ihr nicht.
»Warum bist du hier?«, fragt sie und meint damit: Warum wohnst du hier?
»Warum bist du hier?«, frage ich, und ich meine es so, wie ich es sage.
Sie setzt ein dramatisches Gesicht auf, und ihre Haut legt sich in exakt drei Falten. Eine zieht sich von der Nase zum linken Ohr, eine zieht sich von der Nase zum rechten Ohr, und eine liegt genau zwischen den Augen. Da ist aber jede Menge gemacht worden. Früher war sie mal Ruth Hinzmann, eine hübsche, etwas gewöhnliche Sekretärin aus Hanau. Jetzt ist sie eine wächserne Amerikanerin geworden.
»You know, Dexter ist tot«, sagt sie.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
»Mein Mann«, sagt sie, in einem Ton, als müsste jeder wissen, wer Dexter ist.
Meine Mutter war nach der Ehe mit meinem Vater noch zweimal verheiratet. Das letzte Mal mit einem Zahnarzt. Ich weiß das, weil sie mir in den letzten zehn Jahren ab und zu Karten geschickt hat. Auf denen sie exzessiv ihren jeweiligen Familienstand erläuterte. Aber den Namen Dexter hatte ich jetzt nicht parat. Sie lässt ihren Koffer los, geht zu meiner Couch und setzt sich. Genau in die Mitte.
»Ich wollte an Weihnachten nicht alleine sein«, sagt sie. »Und da dachte ich: Wozu hab ich eine Tochter?«
»Du wolltest an Weihnachten nicht alleine sein?«
Mein Kopf ist schlagartig von großer Klarheit erfüllt. Mir tut nichts mehr weh, und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Adrenalin war schon immer mein Freund.
Sie nickt, und ich glaube, in ihren Augen schwimmen ein paar selbstmitleidige Tränen. Ich gehe zum Fenster, schiebe ihren Koffer beiseite und lehne mich an die Fensterbank. Sankt Pauli im Rücken. Meine Straße, mein Dorf, mein Zuhause. Gutes Gefühl.
»Ich bin seit zwanzig Jahren alleine«, sage ich, »und ich meine damit nicht nur diese verdammten und furchtbaren Weihnachtstage. Ich bin allein, seit Dad sich an seinem Schreibtisch erschossen hat.«
»Dein Vater war nie besonders stark gewesen«, sagt sie.
In mir fängt die Wut an, sich zu entzünden. Ein paar Funken sind schon da. Sie knallen wie kleine Spitzen von innen an meinen Brustkorb.
Ich würde diese Frau wirklich gerne aus meiner Wohnung schmeißen. Ich weiß nur nicht, wie.
»Er war stark wie ein Löwe«, sage ich. »Er hat mich groß gekriegt, in einem für ihn fremden Land.«
»Sorry«, sagt sie, »aber starke Männer stehlen sich nicht aus dem Leben davon. Selbstmord ist eine Versündigung an unserem Lord.«
Herrje. Religiös ist sie auch noch.
»Das war kein Selbstmord«, sage ich. »Das war sein Herz. Es war zerbrochen und hat irgendwann nicht mehr mitgemacht. So war das.«
Meine Wut fährt runter. Hat wahrscheinlich selbst gemerkt, dass sie sinnlos ist. Diese Frau hat keine Ahnung, was sie uns angetan hat, als sie damals gegangen ist.
Sie sagt »mh«, ganz kurz und sehr zickig.
»As you like. Kann ich einen Coffee haben? Der Flug war so furchtbar lang.«
Büchsenöffnerlächeln.
»Wegen mir hättest du nicht fliegen müssen«, sage ich.
Sie kuckt mich beleidigt an.
Dann gehe ich tatsächlich in die Küche und mache Kaffee. Keine Ahnung, warum ich das tue.
Sie ruft mir hinterher, dass wir noch einen Weihnachtsbaum brauchen.
*
Sie liegt in meinem Bett und schläft. In meinem Bett. Hat sich da einfach reingelegt. Ich soll sie in zwei Stunden wecken. Ich soll sie Mum nennen. Ich will nicht mit ihr reden. Sie hat das Gemüt einer rostigen Dampfwalze. Kommt hier rein und fährt mir einfach über die Existenz. Ich fühle mich geplättet. Und die ganzen alten Risse sind auch wieder aufgegangen.
Ich sitze am Fenster und rauche und versuche, irgendwie hier rauszukommen. Ich weiß, ich müsste nur aufstehen, meine Stiefel anziehen, meinen Mantel nehmen und gehen. Aber ich klebe an der Fensterbank fest, an der sie vorhin gestanden hat.
Ich wollte ja eigentlich das Fenster im Haus gegenüber zumachen. Hab ich vergessen. Jetzt schwingt es im Wind auf und zu. Sieht aus, als würde da drüben ein Gespenst wohnen.
*
Ich habe sie nicht geweckt. Ich habe meinen persönlichen Alptraum schlafen lassen. Und tatsächlich ist mir die Flucht aus meiner Wohnung doch noch gelungen. Ich laufe die Hein-Hoyer-Straße entlang. Ich bin wie in Watte gepackt und nehme kaum etwas wahr. Gibt aber auch nicht viel zu sehen. Heiligabend auf Sankt Pauli, das ist wie Hannover: absolut uninteressant. Nichts los. Sankt Pauli lebt davon, dass Menschen auf den Straßen sind. Jetzt sind alle
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