Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
mein Geschenk«, sagt Klatsche, setzt sich hin und schenkt allen ein. »Den Whisky hab ich schon ewig im Schrank, musste nur mal ein Anlass her. Und jetzt bitte ganz in Ruhe genießen, ihr Punks. Das Zeug hier kippt man sich nicht einfach hinter die Binde, okay?«
Und so sitzen wir die nächsten Stunden um einen Tisch, lassen uns das warme, weiche Gold die Kehlen runterlaufen und reden.
Carla erzählt von den Weihnachtsabenden mit ihrer Großmutter in Portugal, in einer Souterrainwohnung in Lissabon. Die Großmutter tischte Stockfisch auf und zum Nachtisch süßen Reis, und wenn Carla und ihre Oma um Mitternacht ins Bett gingen, ließen sie alles auf dem Tisch stehen, damit die Engel was zu essen hatten, wenn sie nachts zu Besuch kamen.
Rocco sagt, Weihnachten hätte ihn nie interessiert, bis zu dem Tag, an dem er eingebuchtet wurde. Das war der erste Advent. Drei Wochen später, nach seinem Prozess, wurde er aus der Untersuchungshaft nach Santa Fu verlegt und teilte sich von da an eine Zelle mit Klatsche. An Heiligabend saßen die beiden im Gemeinschaftsraum zusammen unterm Baum, und weil Klatsche da war, kam das Rocco alles viel weniger trostlos vor.
Klatsche rückt ein Stück näher an seinen Kumpel ran und legt ihm den Arm um die Schultern.
»Jaja, Freunde«, sagt er, »ich bin nämlich gar nicht Klatsche. Ich bin der verrückte Weihnachtsmann.«
Und er holt ganz weit aus, fängt an bei einem Tag im November des Jahres 1998, als er noch ein Teenager war. Als er das Klauen lernte und das Türenknacken. Als er in ein völlig überteuertes Spielzeuggeschäft in Blankenese einbrach und seine gesamte Beute vorm Kinderheim ablegte. In Tüten verpackt, mit kleinen Zetteln dran: Vom Weihnachtsmann.
Er ist so ein Halunke und gleichzeitig so ein guter Junge. Er ist so viel von dem, was Menschen sein können. Er ist ein Sonderfall, und er ist universell. Solange ich Klatsche an meiner Seite habe, kann mir nichts passieren. Obwohl er viel jünger ist als ich, ist er zu meinem Beschützer geworden. Zu meinem Totemtier. Er weiß immer, wie es um mich steht. Er weiß immer, was wichtig ist. Wäre er noch ein paar Jahre jünger, er könnte mein Sohn sein. Und doch brauche ich ihn, wie ich meinen Vater gebraucht habe: als verlässliche Größe in einem eher unzuverlässigen Leben.
Aber irgendwas hält mich immer zurück. Irgendwas hält die Handbremse gezogen. Das weiß er, und ich weiß, dass ihm das manchmal weh tut.
Er ist großzügig genug, mich nicht mit der Nase reinzustoßen.
Ich tu so, als würde ich nicht mitkriegen, dass ich jetzt eigentlich mit Erzählen dran bin. Mir ist nicht nach reden. Worüber sollte ich auch reden? Über die geprügelten Obdachlosen? Über den beknackten Besuch in meiner Wohnung? Ich könnte von den Weihnachtstagen erzählen, die ich mit meinem amerikanischen Vater in europäischen Hotellobbys verbracht habe. Ich kann mir vorstellen, dass die drei hier das gerne hören würden. Aber auch, wenn sie meine Freunde sind, habe ich keine große Lust, vor ihnen zu heulen. Also halte ich lieber die Schnauze und werfe ein bisschen Geld in die Jukebox, damit sie weiß, was sie spielen soll.
»Chris Isaak?«, fragt Carla, als sie meine Musikauswahl registriert, und zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine kleine, dreieckige Falte.
»Ja, klar«, sage ich, »das klingt so schön nach schwülen Sommernächten, oder?«
*
Wir stehen vor unserem Haus und schauen nach oben. In Klatsches Wohnung ist alles dunkel. In der Wohnung nebenan, meiner Wohnung, brennt Licht. Es ist zwei Uhr nachts. Klatsche kuckt mich an, dann kuckt er wieder zu meiner Wohnung hoch und kneift die Augen zusammen.
»Haste Licht angelassen? Oder räumt dir grade einer die Bude aus?«
»Nein«, sage ich. »Meine Mutter ist da.«
Und offensichtlich ist sie aufgewacht.
Er nimmt mich in den Arm.
»Um Himmels willen, wie konnte das denn passieren?«
»Ich hab keine Ahnung«, sage ich.
»Komm«, sagt er und nimmt mich an der Hand, »wir mauern deine Tür zu. Und du wohnst ab jetzt bei mir.«
25. Dezember:
Sie sind weg
S ie sitzt an meinem Küchentisch und frühstückt. Hier wird normalerweise nicht gefrühstückt. Klatsche hat manchmal so Sonntagsbrötchenanwandlungen. Aber der darf das auch.
»Wo warst du denn die ganze Nacht?«
Sie kuckt mich an, als wäre ich fünfzehn und entgegen der Absprache nicht nach Hause gekommen.
»Ich hab mir erlaubt, den zweiten Schlüssel zu nehmen und an der Tankstelle ein bisschen was
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