Eisnattern: Ein Hamburg-Krimi (German Edition)
stellt sie hinter sich auf einer Treppenstufe ab. Der ist der Chef hier. Den muss ich knacken.
»Also, wenn mich einer zusammenschlagen würde«, sage ich, »dann würde ich wollen, dass er nicht einfach so davonkommt. Dann würde ich wollen, dass er das zurückkriegt.«
»Wir haben’s überlebt«, sagt der jüngste der Männer leise, »das reicht.«
Der Fliegermützenmann sagt: »Halt’s Maul, Benno.«
Dann macht er einen Schritt nach rechts, ist wieder auf seinem ursprünglichen Platz zurück, und ich bin raus aus dem Kreis um die glühenden Kohlen.
Moment mal, Freunde. So nicht. Ich hab immerhin Bier spendiert.
Ich drängel mich wieder rein, diesmal aber zwischen Benno und den kleinen Dünnen, der bisher noch gar nichts gesagt hat. Was ja auch nicht so viel weniger ist, als die anderen so von sich gegeben haben.
»Keine Polizei«, sage ich. »Versprochen. Ich will euch nichts tun. Ich will nur wissen, was hier los ist.«
»Wozu?«, fragt der Fliegermützenmann und starrt bockig auf den Grill.
»Weil ich einen halbtoten Mann von einer Treppe in der Marktstraße gezogen habe«, sage ich. »Und einen Tag später lag da schon wieder einer verdreht in der Ecke.«
Der Fliegermützenmann kuckt mich an. In den Falten um seine Augen hat sich der Schmutz von Jahrzehnten gesammelt und festgesetzt. Er sieht aus, als würde er in einem Bergwerk arbeiten.
»Ich krieg das nicht mehr aus dem Kopf«, sage ich. »Und deshalb will ich wenigstens wissen, was genau den beiden Männern passiert ist.«
»Wir wissen nicht, was hier passiert«, sagt der Fliegermützenmann, und er klingt plötzlich sehr klar.
»Was heißt das?«
»Keiner erinnert sich an was«, sagt er. »Du wachst auf, überall ist Blut, dir tut die Fresse weh, und wenn du Pech hast, sind auch noch deine Schuhe weg. Aber du hast keine Ahnung, was passiert ist.«
»Seit wann geht das so?«
»Paar Wochen«, sagt Benno. »Hat im Herbst angefangen. Als es kälter wurde.«
»Euer Kollege da vorne an dem großen Fotoapparat behauptet, ihn erwischt’s nicht, weil er nicht säuft«, sage ich.
»Der braucht nicht zu saufen«, sagt der Dünne, »der ist auch so wahnsinnig genug.«
»Der soll die Klappe halten«, sagt der Fliegermützenmann, »sonst erwischt’s ihn aber sicher, und das kriegt er dann auch mit.«
Der Himmel hat sich innerhalb der letzten zehn Minuten wieder zugezogen, unverhältnismäßig schnell. Ich fühle mich, als wäre ich in einen Zeitraffer gerutscht, und ziehe vorsichtshalber meine Mütze tiefer in die Stirn.
»Fängt gleich an zu schneien«, sagt der Fliegermützenmann.
Benno holt eine alte Plastiktüte aus seiner Manteltasche, setzt sie sich auf den Kopf und sagt: »Wegen mir kann’s losgehen.«
*
Carla und Rocco tanzen Tango. Das machen die neuerdings manchmal. Legen knüppeldicke, traurige Musik auf, stellen sich ganz dicht zusammen und warten, was passiert. Sieht toll aus. Verknotet und verzettelt und ganz selbstverständlich. Wie ein Monster aus Liebe.
Rocco war bis vor kurzem verschwunden, für ein paar Wochen abgetaucht, einfach weg. Passiert ab und an, da muss man sich keine Sorgen machen. Und wenn er dann wiederkommt, bringt er immer irgendwas Aufregendes mit. Diesmal war es Tango. Er behauptet, er sei in Buenos Aires gewesen. Carla glaubt, er war nur irgendwo auf dem Balkan, seinem Zigeunerblut hinterherjagen. Aber es ist im Grunde völlig egal, wo Rocco wirklich war. Es ist faszinierend, wie er das macht, dieses ewige Verschwinden und Auftauchen. Er ist ein lebendes Überraschungsei. Ein Tütenkasper mit zotteligen dunklen Locken und zerschlissenen, aber eleganten Anzügen. Alle mögen es.
Die beiden sind also an ihrem Tangodings dran. Ich trinke Weinschorle und schaue aus dem Fenster auf die Straße, die ich neben meiner eigenen wohl am besten kenne. Die Dietmar-Koel-Straße ist die Verbindung zwischen Michel und Hafen, und das gibt ihr Bedeutung. Wenn man’s genau nimmt, ist sie vielleicht die Straße überhaupt in dieser Stadt.
Draußen läuft eine Familie reicher Russen vorbei, ich erkenne sie an ihren großen Pelzmänteln und an ihrer lauten Art zu reden. Keine Ahnung, was die eigentlich immer hier wollen. Russen und Hamburg, das passt doch gar nicht zusammen. Da hat keiner was von. Wäre ich ein Russe, ich würde immer Berlin nehmen.
Es ist der Tag vor Weihnachten, morgen ist Heiligabend. Wie der Fliegermützenmann vorhin ganz richtig vermutet hat, hat es angefangen zu schneien. Heftig und mit Wind. Die
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