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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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sonnenklar«, begann er. »Da hätten die auch ganz leicht selbst draufkommen können. Einfach mal auf den gesunden Menschenverstand hören, da braucht’s dann auch keine langwierigen Untersuchungen oder Theorien.«
    »Hätten sie mal lieber dich gefragt, oder?«, sagte Marlu, zwinkerte dabei aber Meißner zu.
    »Genau. Die Sache ist doch die: Wenn ein Mensch scheißen geht, dann ist er dabei am liebsten allein. Stimmt’s nicht?« Er sah kurz in die Runde. »Am liebsten hält er sich dabei natürlich in den eigenen vier Wänden auf, aber wenn das nicht möglich ist, weil er unterwegs ist und eine öffentliche Toilette benutzen muss, in der es drei Kabinen gibt, dann wird er immer eine Außenkabine nehmen. Warum? Weil es da mindestens eine Außenwand gibt, also eigentlich zwei, wenn man die Rückseite der Kabine dazuzählt. Und deshalb geht niemand in die mittlere Kabine, die mit beiden Seiten an die Nebenkabinen anschließt. Das ist der wahre Grund, warum es die Menschen nach außen und nie in die Mitte zieht. Ich scheiße auch lieber außen. Wegen der Privatsphäre.«
    »Klingt gar nicht so blöd«, sagte Heidi.
    »Wirklich schade, dass dich die Wissenschaftler nicht gefragt haben«, meinte Marlu. »Deine drastische Ausdrucksweise hätten sie so in ihrer Auswertung ja nicht wiedergeben müssen.«
    Eins zu null für den gesunden Menschenverstand, dachte Meißner. Immerhin: Brunner setzte sich nicht nur gern in Szene, er verstand es auch, den ganzen Tisch zu unterhalten.
    Als die allgemeine Heiterkeit abgeklungen und die leeren Speisenplatten abgeräumt waren, zog Meißner den Tablettenstreifen aus der Tasche, den sie in der Wohnung der Vermissten gefunden hatten.
    »Weiß zufällig jemand, was das für Tabletten sind? Sie heißen, Moment mal …« Er suchte in der Sakkotasche vergeblich nach der Lesebrille, dann hielt er den Streifen mit gestrecktem Arm so weit weg, bis er den Namen des Präparats entziffern konnte. Hollers Tochter Isabella dauerte das alles zu lang. Sie griff nach den Tabletten und las den Namen ab: »Amitriptylin-dura.«
    »Danke«, sagte Meißner. »Kennt das Zeug jemand von euch?«
    Horst und Heidi schüttelten den Kopf, Marlu zuckte die Achseln, nur Brunner grinste. Meißner ahnte schon, dass sein Auftritt noch nicht beendet war.
    Triumphierend zog Kollege Brunner ein gelb-lilafarbenes Tablettenpäckchen aus der Tasche, hielt es sich vor die Nase und las ganz ohne Einsatz einer Sehhilfe: »Amitriptylin-dura, fünfundzwanzig Milligramm. Wirkstoff: Amitriptylinhydrochlorid. Trizyklisches Antidepressivum.«
    Woher hatte der Kerl die Verpackung? Entweder war er vor ihnen in der Wohnung der Vermissten gewesen und hatte das Päckchen mitgenommen, oder sie hatten das Päckchen übersehen, als sie in der Wohnung gewesen waren, und Brunner hatte es später entdeckt. Meißner fixierte Brunner über den Tisch mit dem bekleckerten Tischtuch und den Brotbröseln hinweg. Warum sagte der Kerl ihm nichts, wenn er irgendwo auf eigene Faust ermittelte? War das eine Herausforderung? Eine Aufforderung zum Duell? Dass Meißner auf Marlu als Sekundantin zählen konnte, schien momentan eher fraglich. Es wirkte gerade so, als fände sie den neuen Kollegen genauso toll wie die anderen am Tisch. Die Vorstellung versetzte Meißner einen feinen, aber brennenden Stich.
    Am liebsten wäre er nach Brunners Auftritt mit der Amitridingsbums-Tablettenpackung aufgesprungen und gegangen. Andererseits wollte er nicht die beleidigte Leberwurst geben und Holler seinen Vierundvierzigsten verderben. Außerdem gönnte er Brunner den Triumph nicht, ihn vertrieben zu haben. Und auf Marlu musste er auch aufpassen. Er konnte jetzt nicht das Feld räumen, auch wenn er es am liebsten getan hätte.
    Jetzt zog Brunner auch noch sein ultramodernes Smartphone aus der Hosentasche und switchte mit seinen fettigen Fingern, mit denen er sich eben noch die Fische in den Mund gestopft hatte, auf dem Display herum. Und als er gefunden hatte, wonach er suchte, hob er nun tatsächlich den Zeigefinger und begann vorzutragen.
    »Amitriptylin wird zur Behandlung depressiver Erkrankungen verordnet. Der Wirkstoff hilft speziell bei psychischen Beschwerden, bei denen eine schlechte Stimmungslage oder Ängste im Vordergrund stehen.«
    Brunner hatte eine enervierende Art, in jedem Satz die Adjektive herauszuheben, indem er sie besonders betonte: depressiver Erkrankungen, psychischen Beschwerden, schlechte Stimmungslage.
    »Darin inbegriffen«, fuhr er fort,

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