Eisprinzessin
»sind auch Angststörungen, die sich negativ auf die Stimmung auswirken. Wegen der beruhigenden Wirkung hilft Amitriptylin gleichfalls gegen die krankheitsbedingten Schlafstörungen und sollte abends eingenommen werden.«
Ja, das ist die Definition eines Antidepressivums, dachte Meißner, und ja, Brunner kann auch ein Smartphone bedienen, Wikipedia aufrufen und einen Text laut vorlesen.
»Darüber reden wir morgen im Büro weiter«, schnitt Meißner ihm das Wort ab, bevor Brunner den nächsten Absatz vortragen konnte. Ein paar andere Dinge würde er ihm bei der Gelegenheit auch noch sagen, zum Beispiel, dass er nichts mehr hasste, als wenn Kollegen kurz vor ihm an den gleichen Einsatzorten herumschnüffelten, ohne ihm etwas davon zu sagen.
»Na klar!«, sagte Brunner und ließ sein Handy zurück in die Hosentasche gleiten.
Als sie um elf Uhr das Lokal verließen, suchte Marlu Meißners Nähe, kam aber nicht an Brunner vorbei. Er heftete sich an ihre Fersen und redete ununterbrochen auf sie ein. Meißner konnte sich lebhaft vorstellen, dass alle Geschichten damit endeten, dass er eben doch der tollste Hecht im Umkreis von achtzig Kilometern war und Konkurrenz erst ab der Stadtgrenze von München fürchtete.
Als Meißner Marlu ansah, rollte sie mit den Augen. Vielleicht war das ein Hilferuf – schaff mir diesen Kerl vom Hals! –, aber er war der Meinung, dass sie das schon selbst erledigen musste. Er hatte immer noch mit niemandem über die neuesten Entwicklungen in Sachen Vaterschaft von Konstantin gesprochen, aber mit Marlu konnte er noch nicht darüber reden.
Als Meißner sich von den Kollegen verabschiedete und zu seinem Auto ging, gab sie ihm ein Zeichen, dass sie später noch telefonieren würden. Er nickte und brachte ein schiefes Lächeln zustande, obwohl ihm nicht danach war.
Dann überlegte er es sich anders. Er ging nicht zu seinem Auto, sondern schlenderte durch die Luftgasse, bog in die Kreuzstraße ein und fand sich plötzlich in der Konviktstraße wieder. Das Liebfrauenmünster stand wie eine düstere Festung in seinem Rücken. Es war so leise und kalt in dieser Nacht, die Altstadt wirkte wie eine Stummfilmkulisse. Wäre jetzt die hagere Gestalt des glatzköpfigen, buckligen Nosferatu mit seinen Scherenhänden um die Ecke gebogen, hätte Meißner sich nicht einmal besonders gewundert. Wollte man hier einen Historienfilm drehen, dann müsste man eigentlich nur ein paar Straßenschilder und die Parkautomaten entfernen.
Die Symphonie des Grauens blieb jedoch aus. Nichts rührte sich, nicht einmal der Schatten eines Vampirs schlich um die Häuser. Nur ein farbiges Bleiglasfenster an der Rückseite des Münsters schimmerte geheimnisvoll, erleuchtet von einer Straßenlaterne oder flackerndem Kerzenschein.
Meißner schaute seinen Füßen dabei zu, wie sie wie von einem unsichtbaren Gummiband gezogen in die Kupferstraße abbogen. Er wusste, was sie vorhatten. Auf Schleichwegen ging es in Richtung Franziskanerplatz.
Im Stadtcafé saßen noch ein paar Gäste. An einem der hinteren Tische wurde irgendetwas gefeiert.
Meißner stand noch unschlüssig am Eingang, als er Kirsti aus der Küche kommen sah. Sie wirkte müde, die Frisur war ein bisschen derangiert, aus ihrem dicken blonden Zopf hatten sich einzelne Strähnen gelöst, die sie sich mit der freien Hand hinter das Ohr strich. Als sie ihn entdeckte, blinzelte sie ihm zu, fuhr sich über die weiße Schürze und schaute auf die Uhr über dem Eingang. Dann servierte sie die drei Gläser Cuba Libre auf dem Tablett, kassierte noch an einem der Tische ab und stand schließlich vor ihm.
»Guten Abend, Herr Kommissar, was verschafft mir die Ehre? Willst dich gar nicht setzen?« Sie umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Wie lang habt ihr denn heut noch auf?«, fragte Meißner.
»Bis die letzten Gäste gegangen sind. Wie immer. Hast was auf dem Herzen?«
»Ich wollte nur kurz vorbeischauen und noch einen Schluck trinken.«
»Und warum stehst du dann noch?« Sie lachte.
Er zog umständlich seine Jacke aus und setzte sich.
»Was darf ich dir bringen?«
»Wenn die Kaffeemaschine noch an ist, einen Cappuccino mit wenig Schaum.«
»Einen Schnaps dazu, oder musst du noch fahren?«
»Keinen Schnaps, ich hab für heute schon genug getrunken.«
Kirsti brachte den Cappuccino und setzte sich zu ihm. »Also, was ist los? Raus mit der Sprache. Ärger bei der Arbeit oder eher privat?«
»Genau genommen beides, aber wegen der Arbeit bin ich
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