Eisprinzessin
vierundvierzigsten. Meißner fand das originell. Sein eigener Vierundvierzigster war ganz ohne witzige Feier vorübergegangen. Er konnte höchstens noch den neunundvierzigsten groß feiern oder dann den einundfünfzigsten. Jenseits der Schallmauer.
Dass er einmal so ein alter Knacker sein würde, hatte er sich nicht vorstellen können, als er noch jung gewesen war. Aber warum sollte man auch an sich selbst als Fünfzigjährigen denken? Weil man dann dies und jenes im Leben erreicht haben wollte? Karriere, Haus, Familie, Kinder, Doppelgarage, Wintergarten, Wohnwagen? Da musste er passen. Wenn er an den drohenden runden Geburtstag dachte, hatte er nur einen Gedanken: feige Flucht.
Hollers Frau Heidemarie, genannt Heidi, hatte das Lokal ausgesucht. Sie war Spanien-Fan, genauer: Teneriffa-Fan. Sie lernte Spanisch an der Volkshochschule, schaute spanische Filme im Kabelfernsehen, kochte zu Hause Tapas und liebte das »Granada«. Heidi bestellte frittierte Fische, Fleischbällchen in Tomatensoße und Kartoffeln in Soße. Jeder bediente sich selbst von den vielen Platten, die serviert wurden, und probierte von jedem Gericht. So ließ es sich prima leben. Aber ein vierundvierzigster Geburtstag war natürlich auch leichter zu verkraften als ein neunundvierzigster.
Marlu saß am anderen Tischende zwischen Holler und Brunner, und Meißner hatte sehr wohl mitbekommen, dass Brunner sie wie ein Weltmeister anbaggerte. Da fragte Marlu Heidi, die gerade von der Toilette kam, welche der drei Kabinen sie eben benutzt hatte. Meißner horchte auf. Rankte sich da vielleicht ein Geheimnis um eins der stillen Örtchen?
»Wieso?«, fragte Heidi.
»Weil ich kürzlich eine Studie darüber gelesen habe«, antwortete Marlu.
»Über Toilettenkabinen, Klosprüche an den Wänden, Sexphantasien beim Pinkeln oder worüber?«, fragte Brunner feixend.
»Über die Kabinen«, sagte Marlu. »Also, Heidi, welche hast du benutzt?«
»Die rechte. Hab ich da was falsch gemacht?«
»Ja«, sagte Marlu. »Die rechte ist die, die am weitesten von der Tür entfernt ist. Von der alle annehmen, sie ist deshalb auch die am wenigsten besuchte, also die sauberste. Aber in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall, weil eben alle so denken.«
»Ach so.« Brunner war enttäuscht über die unspektakuläre Auflösung. Keine Klosprüche, keine schlüpfrigen Andeutungen, nicht einmal ein kleiner Witz über Damenhygiene oder die Automaten in den Damentoiletten.
»Die Toilette, auf der du warst«, sagte Marlu zu Heidi, »war also die schmutzigste.«
»Und welche wär dann die beste gewesen?«, fragte Heidi. »Die linke?«
»Nein, die auch nicht«, sagte Marlu. »Die ist der Eingangstür am nächsten, also nehmen die alle Eiligen.«
»Die mittlere also«, glänzte Brunner. Hätte nur noch gefehlt, dass er den Finger vor seiner Ansage gehoben hätte.
»Die mittlere«, philosophierte Meißner, »die unscheinbare Kabine. Die, die den meisten Leuten durchrutscht. Wie die mittleren Kinder, die Sandwichkinder, die nicht mehr die Prügel der Erstlinge abbekommen, aber auch nicht so verwöhnt werden wie die Jüngsten. Die dazwischen werden überall leicht übersehen.«
»Aber wer untersucht so etwas und vor allem, wozu?«, fragte Brunner.
Schwer von Kapee – dieser Spruch seines Großvaters fiel Meißner zu Brunner wieder ein. Er hatte ihn schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört oder verwendet.
»Wahrscheinlich Psychologen«, sagte Holler, »die etwas über das Verhalten der Menschen herausfinden wollen.« Meißner musste sofort an die rothaarige Psychologin denken, mit der Holler öfter zusammengesessen hatte, um im Fall eines verschwundenen Jungen, Gabriel Tanner, ein mögliches Täterprofil zu erarbeiten. Meißner erinnerte sich, dass sie Holler ziemlich gut gefallen hatte und sie ihn in der Ermittlungsgruppe damit manchmal aufzogen hatten.
»Ich glaub ja, dass die Psychologen das Wichtigste übersehen haben«, sagte Brunner und schob sich eine frittierte Sardine in den Mund. Das Fischschwänzchen schaute während des Kauens noch eine Weile aus seinem Mundwinkel hervor, als wollte es der Welt zum Abschied noch einmal zuwinken. Brunner spülte mit einem Schluck Weißwein nach und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde.
»Und? Was ist denn jetzt deiner Meinung nach das Wichtigste?«, fragte Marlu. »Du machst es ja ganz schön spannend.«
Als der Fisch endlich verschwunden war, wischte sich Brunner mit dem Handrücken über den Mund. »Die Sache ist doch
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