Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
EisTau

EisTau

Titel: EisTau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
Vom Netzwerk:
liegengelassen, den ich beiläufig aufschlage: »Die Falklands gehören zu den wenigen unberührten Naturwundern der modernen Welt.« Vermintes Gelände als unberührte Landschaft? Wieso nicht, Kitzbühel gilt auch an strahlend verstauten Feiertagen als Luftkurort. El Albatros hat nur Widerspruch für mich übrig. Wenn alle Strände vermint wären, müßten wir uns um die Vogelschutzgebiete keine Sorgen machen. Ich höre ihm mit halbem Ohr zu, am Nachbartisch unterhalten sich einige Männer, Crème brûlée löffelnd, über die bezaubernde Heidelandschaft der Yorke Bay, wie geschaffen für einen Golfplatz, einen klassischen Links-Platz, und während sie ihrer Phantasie freien Abschlag gewähren, stelle ich mir vor, wie im Verlauf der Bauarbeiten die Position der Landminen in Vergessenheit gerät. Was wäre der Strand (»ein spektakuläres Par 3 über die Köpfe unserer ansässigen Magellan-Pinguine hinweg«) für ein exklusives Sandhindernis, von dem man mit Fug und Recht behaupten könnte: Es ist äußerst schwer, aus diesem Bunker wieder herauszukommen.
     
     
    Ein Leben lang habe ich ihn beobachtet, sorgfältig aus Leidenschaft und mit präzisen Instrumenten. Wenn meine Beobachtungen keine Dellen in dem Selbstverständnis meiner Wissenschaft hinterlassen haben sollten, war mein akademisches Leben eine Verschwendung. Jeden Mai und jeden September reiste ich einige Tage vor den Studenten an, um mich ungestört meinen Sinneseindrücken zu überlassen, um den Gletscherungestört zu erfühlen, ehe wir ihn erfaßten, diesen Gletscher, den mir mein Doktorvater in Obhut gab, eine arrangierte Ehe, die sich über die Jahre in Leidenschaft verwandelte, als sei jede Messung eine Bestätigung seiner Einzigartigkeit. Am ersten Morgen stand ich vor der Sonne auf, schnürte die Wanderschuhe, die sich zunächst fremd anfühlten, und brach auf, um meinen Gletscher zu umfußen, auf der linken Seite hinauf und nach der Überquerung unterhalb des Steilhangs auf der anderen Seite hinab. Ich tastete ihn jedesmal aufs neue ab, mit meinen Augen, mit meinen Füßen. Bei jedem Innehalten berührte ich ihn, legte meine Hände an seine Flanken und strich mir dann mit den Händen über das Gesicht. Sein eisiger Atem, seine belebende Kälte. Vertraut war mir ein jedes seiner Geräusche, das Knarzen und das Scheppern, das Krachen und das Platzen, jeder Gletscher hat eine eigene Stimme, wenn ich zu anderen Gletschern reiste, verglich ich das Hörbild des unbekannten mit dem mir vertrauten. Ein sterbender Gletscher klingt anders als ein gesunder, es rappelt heftig, wenn es entlang der Risse birst, und spitzt man die Ohren, hört man das Schmelzwasser fließen, zu untergründigen Seen, die den faltigen Körper schneller aushöhlen. Wir waren wie ein altes Liebespaar, einer von uns beiden war schwer erkrankt, und der andere konnte nichts dagegen unternehmen. Es gab nur unzulängliche Begriffe für unsere Beziehung, Begriffe wie »Gegenstand der Untersuchung«, wie »Massenbilanzmessung«, keine »Zahlenreihe« wurde meiner Hingabe gerecht, inadäquat wie die »Buchführung«, mit der wir am Ende des Winters den Altschnee ausloteten, quasi als Einnahmeseite, und am Ende des Sommers die Schmelze berechneten, quasi als Ausgabenseite. DiesesKreditieren und Debitieren ließ mich zunehmend verzweifeln. Über die Jahre hinweg verwandelte ich mich in einen Arzt, der nur in die Augen seines Patienten blicken muß, um die richtige Diagnose zu stellen, ich erkannte den Verfall meines Gletschers, bevor die Kurve des mittleren Schichtdeckenwerts ein abfallendes Urteil sprach, ich mußte die Ergebnisse nicht abwarten, um zu begreifen, was uns angesichts dieses kontinuierlichen Verlusts bevorstand. Es war nicht mehr möglich, die Verluste zu kompensieren. Wir alterten gemeinsam, doch der Gletscher ging mir im Sterben voraus.
     
     
    Regeln, Regeln, weitere Regeln. Ohne strenge Vorgaben würden die Menschen alles niedertrampeln, das sehe ich ein, zugleich erniedrigt es mich, ihnen Regeln aufzuzwingen. Die Presseleute anzuweisen gehört zu den unangenehmeren unter meinen neuen Aufgaben. Auf jeder Reise sind einige Journalisten an Bord, von der Reederei geschätzt wegen der kostengünstigen Werbung in ihren Artikeln, entspannte Redakteure und aufdringliche Fotografen, auf der letzten Reise der vorigen Saison waren es ein Dutzend, der Expeditionsleiter wünschte sich zur Unterstützung seiner Autorität einen stummen Beisitzer, und so wurde ich zum ersten Mal Zeuge

Weitere Kostenlose Bücher