EisTau
ausgebreitet. Kaum ist das Mittagessen eingenommen, schart El Albatros die Vogelbeobachter um sich wie ein Guru seine kleine Sekte. Man erkennt sie sogleich am mächtigen Feldstecher um den Hals, sie stehen nebeneinander auf dem offenen Achterdeck und blicken konzentriert hinaus, sie sammeln Sichtungen, während die Gischt sie durchtränkt, die Ellenbogen auf der Reling, das Fernglas aufgestützt, einer hat Posten hinter einem Spektiv bezogen, auf der Jagd nach einem lifer , nach dem ersten Blick auf eine Antarktikskua, der Subantarktikskua zum Verwechseln ähnlich, Prädikat extrem rar. Es herrscht Konkurrenz untereinander (angeblich messen Vogelbeobachter ihre Sehkräfte gelegentlich beim Twitchen), es ist nicht leicht, sich gegen soviel ambitionierten Gegenwind zu behaupten, selbst El Albatros ist schon das eine oder andere Mal eines Flüchtigkeitsfehlers überführt worden. Danach stecken sie ihre Köpfe zusammen, über einem aufgeschlagenen Band von »Birds of the Antarctic«, Finger gleiten über Federn, Schattierungen entfachen Streitereien, wenn sie sich nicht einigen können, welche Raubmöwe sie erblickt haben, gescheiterte Zuordnungen verderben die Freude an der Sichtung. Bei einer der vorangegangenen Reisen positionierte ich mich in Hörweite der Vogelfreunde, wartete eine Weile, bevor ich erregt ausrief:
– da da, schwarzer Rußalbatros (den seltenen Vogel hatte ich mir zuvor in der Bibliothek auserkoren),
die Vogelnarren stürzten herbei, es tönte:
– wo, wo?
ich stocherte mit dem Finger in die Luft:
– da, da,
und sie beugten sich mit dem Oberkörper nach vorn,
– jetzt ist er abgetaucht,
und sie starrten in die Wellen,
– jetzt seh ich ihn nimmer,
sie ließen ihren Blick über das Wasser gleiten,
– jetzt ist er weg,
sie gaben nicht leicht auf, sie suchten beharrlich Meer und Himmel ab,
– wie schade, wirklich jammerschade.
El Albatros erkundigte sich mit seriösem Interesse nach der Beschaffenheit des Kopfgefieders, den Eindunklungen an den Handschwingen, ich gab den unsicheren Zeugen, bis mich ein Wetterleuchten im Auge überführte. El Albatros zwang mich zu einem Geständnis: Ich bin mir sicher, die geritzte Front eines Tafeleisbergs erblickt zu haben, aber diesen seltenen Vogel, ich würde nicht schwören wollen, daß ich den tatsächlich gesehen habe. El Albatros war mir nicht wirklich böse, eigentlich mißfallen auch ihm jene Passagiere, die ihren artenzählenden Listen mehr Bedeutung beimessen als dem Wunder eines einzelnen Vogels, dem Wunder seines stundenlangen Flugs, dem Wunder seiner Entsalzungsanlagen im Schnabel, dem Wunder seiner Tauchfähigkeiten und Navigationskünste. Statt dessen führen sie penibel Buch über jede Sichtung, über Ort, Zeitpunkt und Zeugen, so daß Historiker eines Tages aus reichhaltigen Belegen schöpfen können, um die einstige Verbreitung der diversen Vogelarten auf Erden nachzuvollziehen. Nein, so weit wird es nicht kommen, die Historiker werden aussterben, bevor es den letzten Vogel erwischt.
Ändern sich die Alpträume, unsere kollektiven Alpträume? Das Destillat unserer trunkenen Dispute? Sind die Alpträume einer Epoche ihr ehrlichster Ausdruck? Mein Vater verirrte sich im Schlaf (das hat er mir eines Tages als Gunstbeweis verraten) in einem Schneesturm, seine blinden Schritte führten ihn zu einem Haus ohne Türen und ohne Fenster, ohne Schornstein, ein bewohntes Haus, es roch nach Leben (Krautwickel, so kulinarisch präzise alpträumte mein Vater), es strahlte eine Wärme aus, die seine durchfrorenen Hände auftaute, und wenn er sein Ohr an die hölzerne Außenwand legte, hörte er gedämpfte Stimmen. So laut er auch schreien mochte, selbst als er seine Fäuste blutig getrommelt hatte, die im Inneren des Hauses hörten ihn nicht, oder sie hörten ihn und beachteten ihn nicht. Sein Überlebenstrieb weckte ihn, bevor er vor dem mitleidlosen Haus verendete. Ein solcher Alptraum möge mir vergönnt sein, ich würde jubeln, im Schneegestöber meine Mütze hochwerfen, alles wäre besser, als auf einem Felsen zu sitzen mit einem Klumpen Eis in den Händen, einem schmelzenden Klumpen Eis, das Wasser rinnt mir über die Unterarme, es rinnt und rinnt, ins Hemd und über die Oberschenkel, es tropft und tropft, zu einer Lache zwischen meinen Beinen. Egal, wie behutsam ich das Eis in den Händen halte, es schmilzt weiter. Ich versuche es wegzulegen, auf einen Felsen zu legen, aber es klebt an meinen Händen, es klebt so lange
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