EisTau
leichten Ton, jetzt bin ich abgeschrieben, in zwei Wochen werden Sie so viele Eisberge gesehen haben, Sie werden nicht einmal den Kopf wenden, wenn einer auftaucht. Wie zu erwarten war, springt gleich nach meinen Abschiedsworten der Manager auf, eilt auf mich zu, redet auf mich ein, noch bevor er vor mir stehengeblieben ist, als sei ich eine Schreibmaschine, auf der er eindringlich einen Mahnbrief tippt. Er fordert mich auf, die Angelegenheit bald mit dem Kapitän abzusprechen, es handele sich um ein kolossales Projekt, die logistische Herausforderung dürfe nicht unterschätzt werden, die künstlerische Vision sei explosiv, ganz und gar am Puls der Zeit, die Antarktis inzwischen das Herzensprojekt der Menschheit, Dan Quentin werde ein Zeichen setzen, eine weltweit sichtbare Emotionsflagge hissen, ein Symbol für Bedrohung und Bedrohtheit schaffen, eine originäre visuelle Währung prägen. Morgen nach dem Frühstück werde er erneut auf mich zukommen, er freue sich auf die Zusammenarbeit. Mary hat sich derweil im Hintergrund gehalten, aus dem sie sich nun herausschält, um mich scheu zu fragen, ob sie mich in einer freien Stunde interviewen könne. Dankbar erkläre ich mich einverstanden.
Meine Studenten wußten nicht, was eine Aue ist. Sie konnten mit diesen drei weichen Vokalen nichts anderes verbinden als ein vages »So etwas wie ein Bach« oder »Ist das nicht eine natürliche Grünfläche?« Sie waren nicht einmal peinlich berührt ob ihrer Ignoranz, als stünde ihnen das Grundrecht zu, Vernichtetes zu vergessen. Am letzten Tag unseres Aufenthalts am Gletscher im Spätsommer bat ich sie beim Frühstück, ihre Rucksäcke fertigzupacken, bevor wir ein letztes Mal hinaufstiegen, dem Wirt von der Herberge Zum Kogl drückte ich einen Hundert-Schilling-Schein in die Hand, damit er unser Gepäck zu einer bestimmten Uhrzeit zum Bahnhof bringt. Nachdem wir einen letzten Gletschergang absolviert hatten, schlug ich den Studenten vor, das erste Teilstück unserer Heimreise zu Fuß zu gehen. Wieso? fragten sie. Weil man nur so die Landschaft lesen kann, antwortete ich. Einige murrten, aber keiner wagte es, an der Bushaltestelle stehenzubleiben – die disziplinierende Wirkung eines noch ausstehenden Leistungsnachweises ist bemerkenswert. Wir richteten unseren Blick nach unten. Von oben kann man deutlich das Wirken der Menschen sehen, klar erkennen, wie wir die Natur zugerichtet haben. Das war keine neue Erkenntnis, nicht einmal für städtisch konditionierte Studenten, denen das Wort »Aue« kaum bekannt war. Aber ich wollte, daß sie wenigstens einen Nachmittag lang bewußt das Altwasser wahrnahmen, das an die Stelle der Aue getreten ist, die begradigten Flüsse, die erzieherischen Maßnahmen unserer Zivilisation. An einem Vorsprung, von dem aus das Tal wie ein aufgeschlagener Aktenordner unter uns lag, hielt ich einen kurzen Vortrag über die Auen von einst, die den Menschen irgendwann als wertloses Land galten, als zuzähmende Fremde inmitten ihrer anthropometrischen Ordnung, weswegen das heutige Auge auf trockengelegtes, gerodetes Land blickt, auf Nutzland, auf dem Apfelkulturen das Erbe der Auen angetreten haben. Zuerst wurde die Natur aufgeräumt, dann der Anbau rationalisiert. Unter Hunderten von Apfelsorten konnten nur wenige den Normen entsprechen, den Normen, die so bestimmt waren, daß der Wildwuchs an ihnen scheitern mußte. Für Geschmack und Farbe sollte künftig Chemie sorgen. Wir haben die Vielfalt der Natur erfolgreich durch das Gitter unserer Einfalt gepreßt. Einem der Bauern in diesem Tal, damit schloß ich meine extemporierte Rede, ist es vor einigen Jahren nicht gelungen, die schmackhafteste Ernte seines Lebens zu verkaufen, weil die Größe und die Rundung der Früchte der Supermarktnorm nicht entsprachen, er blieb auf einem faulenden Haufen sitzen, er hätte die Äpfel verschenkt, wären genug Kinder vorbeigekommen. Als wir etwas später auf einer Alm jausten, zogen einige der Studenten glänzend polierte Granny Smiths aus ihren Rucksäcken, schauten auf ihre normierten Äpfel und warfen sich befangene Blicke zu. Sie bissen hinein, und während sie kauten, fragten sie sich vielleicht, wie ein richtiger Apfel wohl schmecke. Bei dem einen oder anderen könnte sich diese Frage in eine beharrliche Sehnsucht verwandeln – mehr zu hoffen wäre vermessen.
Der Pianist wartet auf mich voller Ungeduld. Er tut stets so, als störe ihn meine Anwesenheit, doch wenn ich mich verspäte, schaut er
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